Gesundheitsorientierte Familienhebamme in Mülheim Ruhr
Die Mutmacherin
Als gesundheitsorientierte Familienhebamme begleitet Jennifer Jaque-Rodney werdende Eltern in Mülheim an der Ruhr in einen mit vielen Unsicherheiten behafteten neuen Lebensabschnitt. Sie fungiert als "Übersetzerin“"der Bedürfnisse der Neugeborenen, darüber hinaus erkennt sie gesundheitliche und psychosoziale Probleme bei Kind und Eltern, berät diese oder vermittelt in andere Hilfesysteme.
Von Natalie Deissler-Hesse, LVR-Landesjugendamt
Mit gemischten Gefühlen wartet Lisa auf die Geburt ihres Babys. Alles kam anders, als sie es sich erhofft hatte: Mit gerade mal 16 Jahren wurde sie schwanger. Ihr Freund hat kein Interesse an einer Familiengründung, auf jeden Fall nicht jetzt. Nach dem ersten Schock freut sich Lisa auf das Baby, doch es bleiben Zweifel: Der Gedanke, wie sie einen schreienden Säugling beruhigen soll, treibt ihr Schweiß auf sie Stirn. Was ist zu tun, wenn das Kind krank ist oder nicht trinken möchte? Lisa weiß nicht, wen sie fragen könnte – aus ihrem Bekanntenkreis gibt es niemanden, der ein Baby hat und den Kontakt zu ihrer Mutter hat sie abgebrochen. Als wäre das nicht schon genug, sorgt sich Lisa, wie es nun mit ihrer Ausbildung weitergehen soll und ob sie zur alleinerziehenden Mutter wird.
Für gesundheitsorientierte Familienhebammen ist eine Kontaktaufnahme zu diesem Zeitpunkt optimal, um Frauen wie Lisa bestmöglich unterstützen zu können: Während der Schwangerschaft stehen die werdenden Mütter meist ohnehin regelmäßig in Kontakt mit dem Gesundheitswesen. Die lebensbejahende und zuversichtliche Haltung der erfahrenen Familienhebamme Jaque-Rodney wirkt auf Frauen wie Lisa wohltuend und beruhigend. "Ihr seid gut genug für eure Kinder!", ist Jaque-Rodneys Botschaft an verunsicherte Mütter. "Oftmals sehen sie ihre Potenziale nicht", berichtet die Familienhebamme, "wir unterstützen sie dabei, ihre versteckten Potenziale hervorzuheben." Wer zum ersten Mal ein Neugeborenes in die Arme gelegt bekommt, erinnert sich möglicherweise an den zittrigen und ungelenken Versuch, das Baby "richtig" zu halten oder die Befürchtung, "etwas falsch zu machen". Beruhigt sich ein schreiendes Kind nicht auf dem eigenen, aber auf Arm einer anderen Person, kann das die eigene Unsicherheit verstärken. Jaque-Rodney arbeitet deshalb zur Veranschaulichung des Haltens, Tragens und Wickelns mit Puppen. Der Mutter möchte sie das Erfolgserlebnis schenken, ihre eigene beruhigende Wirkung auf ihr Baby zu spüren.
Evaluation belegt Erfolge der Familienhebammen
Die jüngste Auswertung (2020) der Begleitung auf die Interaktion der Eltern mit ihren Säuglingen belegt eindrücklich die Erfolge des Mülheimer Familienhebammenteams. Der Mülheimer Gesellschaft für soziale Stadtentwicklung zufolge war das Team seit 2013 gerechnet mit ca. 800 Müttern, Vätern und ihren Kindern in Kontakt. Das Familienhebammenteam hat demnach maßgeblich dazu beigetragen, dass 80 Prozent dieser Kinder von ihren Müttern gestillt werden. Auch das Spazierengehen, Bücheranschauen, Vorsingen und Spielen mit dem Kind nimmt durch die Impulse der Familienhebammen zu.
Erfreulicherweise stieg der Anteil der Frauen, die Familienhebammen aus eigenem Antrieb in Anspruch nehmen, in den vergangenen sechs Jahren auf über 50 Prozent. Doch es gibt auch jene Familien, die zögerlich auf Hilfsangebote außerhalb des vertrauten Familienverbunds reagieren. Kulturelle Gepflogenheiten, die es nahelegen, Belastungssituationen nicht nach außen zu tragen, können eine Kontaktaufnahme mit den Familienhebammen erschweren. "Dann hilft es, den Eltern klar zu machen, dass sie alleine darüber entscheiden, ob sie Unterstützungsangebote annehmen wollen oder nicht", erläutert Jaque-Rodney. Wenn es mit kleinen, partizipativen Hilfestellungen gelinge, Eltern im Umgang mit ihrem Kind zu motivieren oder gar zu begeistern, würden anfängliche Vorbehalte den Familienhebammen gegenüber oft ausgeräumt.
Gesundheitsbezogene Angebote und Familien zusammenbringen
Zur Angebotspalette der gesundheitsorientierten Familienbegleitung, die Jaque-Rodney mit ihren Kolleginnen im Rahmen der Bundesstiftung Frühe Hilfen umsetzt, gehört nicht nur das Vermitteln von Beziehungs- und Versorgungskompetenzen (werdender) Eltern. Entscheidend ist auch ihre Lotsenfunktion, beispielsweise in Geburtskliniken oder bei Willkommensbesuchen. Dort können "nah dran" an den Familien Unterstützungsangebote aus dem Netzwerk Frühe Hilfen, aus anderen Bereichen der Kinder- und Jugendhilfe (z.B. der Familienberatung) oder auch aus dem Gesundheits- und Sozialwesen vermittelt werden. Den jungen Eltern in besonderen Lebenslagen steht eine präventive, gesundheitsfördernde Struktur zur Verfügung, die Jaque-Rodney in ihrer Funktion als Netzwerkkoordinatorin der Frühen Hilfen in Mülheim etabliert hat. "Angebote optimieren, ins Netzwerk holen und sichtbar machen", fasst sie diese Tätigkeit zusammen.
Das Familienhebammenteam selbst bietet verschiedene, auf junge Eltern zugeschnittene Kurse in Einrichtungen der Netzwerkpartner*innen an. Einer von vielen, stark an der Lebenswelt werdender und frischer Mütter orientierter Kompetenzerwerb, den Jaque-Rodney mit ihrem Team anbietet, ist beispielsweise ein Fahrradkurs. Frauen ohne eigenes Auto lernen, ihr Kind sicher auf dem Fahrrad zu transportieren und dabei einen Einkauf zu erledigen. Das zusätzliche Plus für die Gesundheit: die Frauen bleiben in Bewegung.
Der Wunsch nach mehr Kooperation mit der Ärzteschaft
Wenngleich die gesundheitsorientierten Familienhebammen beim Fördern von Interaktion und Bindung zwischen Eltern und Kindern eine positive Bilanz ziehen, wird die Möglichkeit ihrer Hilfestellung oftmals gehemmt. Zu den wichtigsten Zugangswegen der Familienhebammen gehören die Praxen von Kinder- und Frauenärzt*innen. In Früherkennungsuntersuchungen von Kindern (sog. U-Untersuchungen) erhalten die Kinderärzt*innen Einblick in den Entwicklungsstand ihrer kleinen Patient*innen sowie in die Beziehung zu ihren Eltern. Sowohl bei der körperlichen Untersuchung als auch im Gespräch können wichtige Hinweise auf gesundheitliche oder psychosoziale Belastungen zutage treten. Gleiches gilt für die Schwangerschaftsvorsorgeuntersuchungen in gynäkologischen Praxen. Von Seiten der Frauenärzt*innen erfolge jedoch selten eine Weiterleitung ins Hilfesystem der Familienhebammen, beklagt Jaque-Rodney. Dies mag einerseits an den hochroutinierten Abläufen der Praxen, aber auch an wahrgenommener Konkurrenz zwischen (Familien-)Hebammen und Ärzt*innen liegen. Wie so oft stoßen hier fachspezifische Blickwinkel aufeinander. Dabei würde eine verbindlichere Kooperation beiden Seiten zugutekommen: Den Familienhebammen würde der Zugang zu schwer erreichbaren Familien erleichtern. Die Gynäkolog*innen könnten ihrerseits im Falle beobachteter psychosozialer Belastungen der Patientinnen durch die Familienhebammen entlastet werden.
Wenn die von Familienhebammen begleiteten Frauen ihre mütterlichen Fähigkeiten entdecken, Selbstbewusstsein im Umgang mit ihrem Kind entwickeln und im nächsten Schritt freiwillig weitere Hilfesysteme in Anspruch nehmen, hat Jaque-Rodney einen Meilenstein erreicht. Ihre Haltung zu den Familien spielt dabei eine entscheidende Rolle: "Wir nehmen die Hilfesuchenden nicht als Risikopatient*innen wahr, sondern als Familie mit besonderen Bedürfnissen", stellt sie klar. Wichtig sei es, dass sich die Familie mit ihren Sorgen und Nöten ernst genommen, aber nicht kontrolliert fühle. Ihre Hilfestellung im gewohnten Umfeld der Familie sorgt für ein vertrauensvolles Klima. Wenn den jungen Familien eine dringende Frage unter den Nägeln brennt, ist außerdem ein Anruf oder eine Sprechstunde im Mülheimer Familienhebammenladen möglich.
Lisa ist inzwischen Mutter der kleinen Zoe geworden. An manchen Tagen ist es für sie eine Herausforderung, den Bedürfnissen von Zoe gerecht zu werden. Doch auch wenn sie Pflege und Erziehung ihres Kindes nun allein stemmen muss, fühlt sie sich gut gewappnet. Ihre Familienhebamme ist nur einen Anruf entfernt.