Starke Südstadt Kleve
Corona-Lockdown entfacht Ideen in der Quartiersarbeit
Wie es engagierten Fachkräften beim Projekt "Starke Südstadt" gelingt, unter erschwerten Bedingungen mit Kindern, Jugendlichen und ihren Familien in Kontakt zu bleiben
Von Natalie Deissler-Hesse, LVR-Landesjugendamt
Was ist ein Bein? Das weiß doch jeder! Nein – die Teilnehmerinnen eines digitalen Deutschsprachkurses für Frauen mit Migrationshintergrund möchten dringend wissen, was ein Bein ist. Anke Altenstädter, Fachkraft beim Projekt "Starke Südstadt", fungiert aktuell auch als Deutschlehrerin. Wenn es nur eine klitzekleine gemeinsame Sprachbasis mit den Frauen gibt, muss sie Worte auch mal mit Händen und Füßen erklären. Thema diese Woche ist der Arztbesuch. Die Kursteilnehmerinnen wollen lernen, wie sie in der Sprechstunde erklären, wo sie z.B. Schmerzen haben.
Die Pädagogin kommt nicht umhin, ein wenig arabisch zu lernen, um sich verständlich zu machen. Wenn mal totale Verwirrung über ein Wort herrscht, tut es notfalls ein schnell befragter Übersetzungsdienst. Das arabische Pendant zu Bein ist schnell gefunden. Anke Altenstädter liest es etwas zögerlich vor. Die Kursteilnehmerinnen lachen laut, es muss sich wohl ganz falsch anhören. Neuer Versuch. Die Pädagogin macht wilde Verrenkungen vor der Kamera ihres Handys. "Kann man mein Bein sehen? Das ist ein Bein. B-E-I-N." Zugegebenermaßen ist die Videofunktion des Messenger-Dienstes nicht unbedingt für den Ganzkörpereinsatz vorgesehen. Aber die Kursteilnehmerinnen haben verstanden und dürfen nachsprechen. Weiter geht’s zum Knie.
Ein Deutschkurs in Zeiten von Corona? Wie auch Arbeitgeber, Schulen und andere Bildungseinrichtungen muss sich das Berufsbildungszentrum im Kreis Kleve e.V. (BBZ) etwas einfallen lassen, um die Bewohner*innen des Klever Südstadtquartiers, zumeist Flüchtlingsfamilien, auch während eines Lockdowns zu unterstützen. Während viele Familien weder Computer, Laptops oder Drucker besitzen, sind Smartphones und die Nutzung der Videofunktion von Messenger-Diensten fest in deren Alltag integriert. Für die Fachkräfte des BBZ eine gute Basis, um mit lernwilligen Frauen in Kontakt zu bleiben. Der aktuelle einmal wöchentlich stattfindende Intensiv-Deutschkurs umfasst drei Teilnehmerinnen aus dem arabischen Raum, die durch großes Engagement auffallen und bisher keine Unterrichtseinheit verpasst haben.
Die generell hohe Motivation von Deutschkursteilnehmerinnen ist auch einer weiteren Lehrerin mit Migrationshintergrund zu verdanken, der es gelungen ist, mit Berichten und Anekdoten aus ihrer Biographie Nähe und persönlichen Bezug herzustellen. Viele Probleme und Fragestellungen der Flüchtlingsfrauen kennt sie aus eigener Erfahrung, kann deren Sorgen und Nöte nachvollziehen und einordnen. Sie ist, ebenso wie alle Kursteilnehmerinnen, Mutter und unterstützt u.a. in Fragen rund um die Mutter- und Elternschaft. Die Scham vieler Frauen, Fehler im Deutschen zu machen, kann ihnen die Lehrerin nehmen, auch für sie war die deutsche Sprache einst Neuland. Damit wirkt ihr Migrationshintergrund entlastend für die Teilnehmerinnen und trägt zu einer entspannten Kursatmosphäre bei.
Was tut Menschen gut? Die Fachkräfte des BBZ wissen es
Wenn sich die Fachkräfte des BBZ zusammensetzen, um neue Angebote zu planen, entsteht ein immer neuer Strauß abwechslungsreicher, praxistauglicher, unkomplizierter und kostengünstiger Ideen, die die Familien der Südstadt glücklich machen: ein Picknick am Rheinufer mit Naturpädagogischen Angeboten, Kinobesuche für Kinder und Jugendliche, Kochen überm Lagerfeuer im Jugendhaus Moms und vieles mehr. Noch heute berichten einige Frauen von einem besonderen Highlight: einer "Shoppingtour" zu einem großen sozialen Kaufhaus in Emmerich.
Ein voller Erfolg war auch die Projektwoche Gewaltprävention "Mut tut gut" im Jugendhaus Moms. Sieben Kinder und Jugendliche im Alter von 10 bis 14 Jahren besprachen u.a. die Themen verbale Aggression, Sachbeschädigung, körperliche Aggression, seelische Gewalt, Cybermobbing und Erpressung. Mithilfe von Filmen und Plakaten erarbeiteten die Kinder Fragestellungen. Sie begannen, sich in der geschützten Gemeinschaft zu öffnen und beispielsweise über Mobbingerfahrungen zu berichten. Positiv überrascht waren die Fachkräfte am Ende der Projektwoche, wie gut die Kinder Rechtswidrigkeiten einordnen konnten. "Ich habe erlebt, wie Kinder sich beleidigt haben. Das ist verbale Gewalt. Das habe ich in der Projektwoche gelernt", fasst ein Junge zusammen. Leider musste der geplante Besuch bei der Polizei, dem die Kinder entgegengefiebert hatten, wegen des ersten Lockdowns im März 2020 abgesagt werden.
Und dann kam Corona…
Für Kinder und Jugendliche aus belasteten Familien bricht in Corona-Zeiten die hart erarbeitete gesellschaftliche Teilhabe größtenteils weg. Der aus epidemiologischer Sicht richtige Weg der Kontakteinschränkungen stellt für die Kinder- und Jugendhilfe sowie für alle sozialen und gemeinnützigen Einrichtungen eine Herausforderung dar. Sie sind gezwungen, alternative Kommunikations- und Interaktionswege zu erschließen und eine niedrigschwellige Erreichbarkeit zu gewährleisten. Den Fachkräften des BBZ ist dies mit wenig Mitteln und Aufwand in hervorragender Weise gelungen. "Immer wenn es schwieriger wird, fällt uns eine neue Lösung ein", stellt Anke Altenstädter fest. Basis für alle neuen Wege sind die mit der Zeit gewachsenen, gefestigten und vertrauensvollen Beziehungen zu den Bewohner*innen.
Auch wenn natürlich der persönliche Kontakt fehlt, konnte die vor dem ersten Lockdown gut funktionierende, zweimal wöchentlich stattfindende Lern- und Hausaufgabenhilfe digital unkompliziert weitergeführt werden. Die zehn teilnehmenden Kinder, zumeist sehr sicher in der deutschen Sprache, schicken ihre Aufgaben per Digitalfoto über einen Messenger-Dienst an die Fachkräfte und erläutern textlich oder per Anruf ihren Hilfsbedarf.
Die für die Bewohner*innen wichtige Einzelfallhilfe, bei der sie sich mit konkreten Problemen und Unklarheiten (Briefe des Jobcenters, Stromabrechnung…) an die Fachkräfte wenden, konnte während des Lockdowns telefonisch und per Videochat fortgesetzt werden. Die Einzelfallhilfe fungiert auch als Bindungselement zu den Familien. Dort erfahren sie von anderen Angeboten des BBZ und tragen die Informationen weiter.
Trotz aller Kontaktbeschränkungen: Wir haben euch nicht vergessen!
Physische Kontaktbeschränkungen schließen andere Begegnungsmöglichkeiten nicht aus. So kamen die Fachkräfte des BBZ auf die gute alte Schneckenpost. "Wie geht es euch? Wo braucht ihr Hilfe oder Unterstützung?" stand in Briefen an die Kinder. Anke Altenstädter, die vor Corona-Zeiten mit den Kindern einen Gemeinschaftsgarten bepflanzte, schickte ihnen Sonnenblumensamen mit Anleitung. Die Symbolik kam bei den Kindern an: Unser gemeinsamer Kontakt ist nicht verwelkt. Die Sonne scheint weiterhin!
Die Kinder schickten gemalte Bilder zurück, schrieben Postkarten und warfen sie in den Briefkasten des Jugendhauses Moms: "Uns geht es gut" - "Wir vermissen euch!" - "Wann macht Moms wieder auf?", stand darauf.
Wo kann man sich unter Einhaltung der Abstandsregeln und ohne Trubel ungestört unterhalten, überlegte das Team von "Starke Südstadt" und kam schnell auf den Waldspaziergang. Für die Bewohnerinnen des Südstadtquartiers ein seltener Luxus: Die Fachkräfte nehmen sich viel Zeit für die Belange der Frauen. Zugleich genießen alle den Kontakt zur Natur. Den Frauen sind die Spaziergänge als eine entspannte Zeit des Austausches in Erinnerung geblieben.
Alle coronatauglichen Angebote des BBZ sollen zeigen: Wir denken an euch! Wenn die Kontaktbeschränkungen keine Massenbeförderung erlauben, gibt es einen anderen Weg, Kinder mobil zu machen: In der Jugendwerkstatt wurden Fahrräder aus dem Fundbüro geflickt und an die Kinder übergeben. Auch die in Kooperation mit einem Kindernetzwerk zusammengestellten Überraschungspakete mit Spielsachen machten den Kindern während des Lockdowns eine große Freude.
Erschwerte Kontaktaufnahme unter Corona-Bedingungen
Der Gemeinschaftsgarten Brüningstraße in der Klever Südstadt ist prädestiniert für die unkomplizierte Kontaktaufnahme zu den Bewohner*innen der umliegenden Häuser. Kinder können bei Aktivitäten und Veranstaltungen "mal eben" ihre Eltern an der Haustür fragen, ob sie mitmachen dürfen. Jeder ist willkommen ohne Aufwand und Anmeldung.
Einzig der Kontakt zu Neuankömmlingen ist unter Corona-Bedingungen schwer herzustellen. Auch hier bauen die Fachkräfte auf ihr gefestigtes Vertrauensverhältnis zu den Bewohner*innen der Klever Südstadt auf. "Kennt ihr eine Familie, die Hilfe braucht?" Alternativ hat Anke Altenstädter einen Brief mit ihrem Foto vorbereitet. „Hallo, ich bin Anke", steht auf einer Karte ins Arabische übersetzt. Eine Frau, zu der die Neuankömmlinge Kontakt geknüpft haben, kündigt ihnen an, dass Anke Altenstädter sie heute anrufen und fragen wird, bei welchen Angelegenheiten sie Hilfe benötigen. Schwierig ist die Kontaktaufnahme bei Analphabet*innen, hier hilft auch die Dolmetscher-App nicht weiter. Anke Altenstädter gelingt es aber per Video, das eine oder andere Problem zu lösen. Eine Frau, die weder lesen noch schreiben kann, kennt inzwischen das Logo des Jobcenters und hat den Begriff "Termin" gelernt. So kann sie einen Zusammenhang herstellen und eine Frage formulieren.
Abschied nehmen ist schmerzhaft
"Starke Südstadt" wurde zunächst mit Mitteln der Sozial- und Kulturstiftung des Landschaftsverbandes Rheinland (LVR) gefördert und wird aktuell mit Mitteln des Ministeriums für Arbeit, Gesundheit und Soziales des Landes Nordrhein-Westfalen (MAGS) finanziert, die Ende 2020 auslaufen. Für die Mitarbeiter*innen des Projekts und die Bewohner*innen des Südstadtquartiers eine Hängepartie mit ungewissem Ausgang. Niemand möchte sich von dem stabilen Beziehungsnetz trennen, das die Fachkräfte mit Engagement und Herzblut geknüpft haben. "Ganz wenige professionelle Mitarbeiter*innen kommen so nah an die Menschen heran", beschreibt Teamleiterin Hildegard Holland die Besonderheit des Projekts.
Wenn lange gewachsenes, bedingungsloses Vertrauen herrscht, fällt der Abschied besonders schwer. Eine mehrköpfige Familie mit geringen Deutschkenntnissen bat um Unterstützung bei den Umzugsvorbereitungen in eine andere Stadt. Der Vater, ein Musiklehrer, brachte Hildegard Holland ohne Vorbehalte alle behördlichen Unterlagen. Er hofft, an seinem künftigen Wohnort ebenso entgegenkommend und unkompliziert entlastet zu werden, wie in der Klever Südstadt. "Gibt es dort auch ein Moms?", fragte er sie besorgt. Die musikalische Familie verabschiedete sich bei den Fachkräften mit einem eigens für sie einstudierten kleinen Videokonzert via Messenger-Dienst. In solchen Momenten weiß Anke Altenstädter, warum es sich lohnt, vor der Handykamera Verrenkungen zu machen.