Familiennachzug nach Deutschland und Zeitpunkt der Altersfeststellung bei Minderjährigen.
Europäischer Gerichtshof, Urteil vom 1. August 2022
Az. C-273/20 Celex-Nr. 62020CJ0273
Der Europäische Gerichtshof befasste sich im vorliegenden Verfahren unter anderem mit dem Fall eines syrischen Jungen, der als 16-jähriger nach Deutschland kam und im Dezember 2015 einen Asylantrag stellte. Im Juli 2016 wurde er als Flüchtling anerkannt. Im Oktober 2016 beantragte die syrische Mutter des Jugendlichen bei der deutschen Botschaft in Beirut für sich und drei weitere minderjährige Kinder die Familienzusammenführung mit dem älteren Sohn in Deutschland. Im März 2017 lehnte die Botschaft den Antrag auf Familienzusammenführung ab, weil der Sohn in Deutschland inzwischen volljährig sei.
Dagegen klagte die Mutter und erhielt zunächst vor dem Verwaltungsgericht Berlin Recht. Doch die Bundesregierung ging in Sprungrevision zum Bundesverwaltungsgericht Leipzig. Das Bundesverwaltungsgericht legte den Fall dem EuGH vor, der nun die zugrundeliegende EU-Richtlinie (Art. 16 Abs. 1 Buchst. A der Richtlinie 2003/86/EG) zur Familienzusammenführung auslegte.
Der Europäische Gerichtshof entschied, dass für die Minderjährigkeit der Zeitpunkt des Asylantrags des Jugendlichen maßgeblich war. Im Dezember 2015 war er noch 16 Jahre alt. Wenn es auf das Datum des Asylbescheids oder den Bescheid über den Antrag auf Familienzusammenführung ankäme, argumentierte der Europäische Gerichtshof, hätten es die Behörden ganz in der Hand, die Familienzusammenführung zu vereiteln, indem sie Anträge bewusst langsam bearbeiteten. Laut EU-Recht sollen Anträge von Minderjährigen vorrangig beschieden werden, es dürfe deshalb keinen Anreiz geben, diese erstmal liegen zu lassen.
Gleichzeitig legt der Europäische Gerichtshof fest, dass der Antrag auf Familienzusammenführung innerhalb einer Frist von drei Monaten ab Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft erfolgen muss.
Urteil des EuropäischenGerichtshofs
Masernimpfpflicht ist verfassungskonform
Bundesverfassungsgericht, Beschluss vom 21. Juli 2022
1 Br. 469/20, 1 Br. 472/20, 1 Br. 471/20, 1 Br. 470/20
Die Impfpflicht für Kitakinder gegen die Masern ist verfassungskonform. Das hat das Bundesverfassungsgericht entschieden und die Verfassungsbeschwerden mehrerer Eltern abgewiesen.
Der Erste Senat des Bundesverfassungsgerichts bestätigte, dass die Impfpflicht sowohl das Grundrecht auf elterliche Sorge aus Art. 6 Grundgesetz als auch das Recht der beschwerdeführenden Kinder auf körperliche Unversehrtheit aus Art. 2 Abs. 2 S. 1 GG einschränkt. Beide Eingriffe seien allerdings "allein bei verfassungskonformer Auslegung von § 20 Abs. 8 Satz 3 IfSG gerechtfertigt". Der Schutz der Menschen, die durch eine Maserninfektion gefährdet seien, habe Vorrang, etwa Schwangere oder Kinder unter einem Jahr. Einen solchen könne der Gesetzgeber bestimmen, und das habe dieser mit der entsprechenden Regelung im Infektionsschutzgesetz ohne Verstoß gegen das Verfassungsrecht getan.
Die Zurückweisung der Verfassungsbeschwerde erfolgt allerdings mit der Maßgabe einer verfassungskonformen Auslegung, die an die zur Durchführung der Masernimpfung im Inland verfügbaren Impfstoffe anknüpft. Stehen - wie derzeit in Deutschland - ausschließlich Kombinationsimpfstoffe zur Verfügung, ist § 20 Abs. 8 Satz 3 IfSG verfassungskonform so zu verstehen, dass die Pflicht, eine Masernimpfung auf- und nachzuweisen, nur dann gilt, wenn es sich um Kombinationsimpfstoffe handelt, die keine weiteren Impfstoffkomponenten enthalten als die gegen Masern, Mumps, Röteln oder Windpocken.
Bereits vor zwei Jahren waren Eltern mit ihrem Eilantrag vor dem Bundesverfassungsgericht gescheitert, mit dem sie das Inkrafttreten der Impfpflicht bis zur endgültigen Entscheidung über ihre Verfassungsbeschwerde verhindern wollten.
Beschluss des Bundesverfassungsgerichts
Aufschiebende Wirkung eines Widerspruchs gegen eine Inobhutnahme
Verwaltungsgericht München, Beschluss vom 9. August 2022,
Az. M 18 S 22.3726
Die allein sorgeberechtigte Antragstellerin hat sich gegen die Inobhutnahme ihrer Tochter durch das Jugendamt gewendet. Die Tochter war am 26. Juli 2022 durch das Jugendamt in Obhut genommen und bei dem Vater untergebracht worden, da die Mutter vermeintlich verschwunden beziehungsweise nicht zu erreichen war und sie die Tochter nicht von der Schule abgeholt hatte. Nach Absprache mit dem in einem parallelen familiengerichtlichen Verfahren bestellten Verfahrensbeistand sei dem Vater die Entscheidung der Inobhutnahme mündlich mitgeteilt worden und dieser habe das Kind dann abgeholt. Zudem wurde ein Antrag nach § 8a SGB VIII, § 1666 BGB an das Amtsgericht München hinsichtlich des Entzuges der elterlichen Sorge und Beauftragung einer Ergänzungspflegschaft gestellt.
Die antragstellende Mutter hatte sich unmittelbar danach gemeldet und mitgeteilt, dass sie zunächst gesundheitliche Probleme hatte, sich aber bei Ihrer Tochter immer telefonisch und per SMS gemeldet habe und einen Abholtermin von der Schule mit der Tochter abgemacht, der auch von dieser bestätigt wurde. Diese sei aber dann schon abgeholt gewesen. Die Inobhutnahme ihrer Tochter wurde der Antragstellung ebenfalls nur mündlich mitgeteilt.
Die Antragstellerin legte daraufhin beim Jugendamt Widerspruch gegen die Inobhutnahme ein und forderte eine Gefährdungseinschätzung nach § 8a SGB VIII an. Sie beantragte einstweiligen Rechtsschutz beim Verwaltungsbericht München mit der Begründung, dass keine Gefährdungssituation bestanden und kein Bedarf für eine Inobhutnahme bestanden habe.
Das Verwaltungsgericht München hat dem Antrag auf einstweiligen Rechtsschutz stattgegeben. Der Widerspruch gegen die Inobhutnahme habe gemäß § 80 Abs. 1 S. 1 VwGO aufschiebende Wirkung, wenn keine sofortige Vollziehung der Inobhutnahme angeordnet und schriftlich begründet wurde. Halte in diesem Fall das Jugendamt trotz des Widerspruchs an der Inobhutnahme fest und vollziehe diese weiter, liege ein Fall des sogenannten faktischen Vollzugs vor. Dies führe als Verstoß gegen § 80 Abs. 1 VwGO ohne Weiteres zur Rechtswidrigkeit der Verwaltungsmaßnahme. Im Übrigen betont das Gericht, dass, ohne dass es entscheidungserheblich darauf ankommen würde, es Zweifel an der Rechtmäßigkeit der erfolgten Inobhutnahme habe. Eine dringende Gefahr sei nach Ansicht des Gerichts nicht erkennbar gewesen.
Beschluss des Verwaltungsgerichts München
Zweifel bei der Alterseinschätzung
Verwaltungsgericht Bremen, Urteil vom 15. Juli 2022
Az. 3 V 418/22
Im November 2021 meldete sich der Antragssteller in einer Erstaufnahmeeinrichtung in Bremen und gab an 17 Jahre alt zu sein.
Im Februar des darauffolgenden Jahres fand ein Erstgespräch zum Zwecke der Alterseinschätzung mit zwei Mitarbeitern des Jugendamtes statt.
Nach erfolgter Alterseinschätzung beendete das Jugendamt die vorläufige Inobhutnahme, da das äußere Erscheinungsbild des Antragsstellers nicht dem einer Person entspreche, die jünger als 18 Jahre sei. Auch die Eindrücke des Entwicklungsstandes, der Lebensgeschichte und dem Auftreten begründeten Zweifel hinsichtlich der Minderjährigkeit.
Daraufhin hat der Antragssteller beim Verwaltungsgericht um einstweiligen Rechtschutz nachgesucht. Die Inobhutnahme zu versagen, sei rechtswidrig, denn die Inobhutnahme sei vorzunehmen, wenn weiterhin Zweifel an der Volljährigkeit bestehen.
Das Verwaltungsgericht hat entschieden, dass der Antrag begründet ist.
Die erfolgte Altersfeststellung werde den Maßstäben einer qualifizierten Inaugenscheinnahme nicht gerecht, denn diese erweise sich als inhaltlich nicht ausreichend belastbar, um zweifelsfrei von einer Volljährigkeit ausgehen zu können.
Nach Ansicht des Verwaltungsgerichts stützen die Mitarbeiter ihre Ergebnisse lediglich auf drei Aspekte: das äußere Erscheinungsbild, sein Verhalten sowie seine Angaben im Gespräch. Diese Aspekte liefern im vorliegenden Fall in der Gesamtschau kein hinreichend belastbares Ergebnis.
Die erfolgten Feststellungen, besonders im Hinblick auf das äußere Erscheinungsbild sowie sein Verhalten im Gespräch, können sowohl bei einem 17-Jährigen als auch bei einem jungen Volljährigen gemacht werden.
Da das Alter nicht zweifelsfrei auf über 18 Jahre festgelegt werden könne, sei dieses nach wie vor als offen anzusehen und die Inobhutnahme müsse nach dem Grundsatz „im Zweifel für die Minderjährigkeit“ vorgenommen werden.
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