Anspruch auf staatlichen Schutz bei Rückführung in den elterlichen Haushalt
Bundesverfassungsgericht, Beschluss vom 5. September 2022
Az. 1 BvR 65/22
Die Beschwerdeführerin ist Verfahrensbeiständin eines minderjährigen Kindes, dessen nicht miteinander verheiratete Eltern aufgrund langjähriger Betäubungsmittelkonsumation und psychiatrischer Behandlungen der Mutter mit der Erziehung überfordert waren. Das Kind wurde in Obhut genommen und in eine Bereitschaftspflegefamilie gegeben. Nachdem das Jugendamt ein Kindeswohlgefährdungsverfahren angeregt hatte, wurde den Eltern im Rahmen eines einstweiligen Anordnungsverfahrens vorläufig die elterliche Sorge in den Teilbereichen Aufenthaltsbestimmung, Regelung ärztlicher Versorgung und Recht zur Beantragung von Jugendhilfemaßnahmen entzogen.
Auf die Beschwerde der Eltern bestätigte das Oberlandesgericht die familiengerichtliche Entscheidung.
Im Hauptsacheverfahren bestätigte ein auf die Erziehungsfähigkeit bezogenes Gutachten, dass ein Wechsel des Kindes in den Haushalt der Eltern eine Kindeswohlgefährdung darstelle. Im Hauptsacheverfahren entzog das Familiengericht sodann den Eltern wegen Kindeswohlgefährdung das Recht zur Aufenthaltsbestimmung gemäß § 1666 BGB.
Hiergegen legten die Eltern getrennt voneinander Beschwerde ein. Zwischenzeitlich war der Vater drogenfrei und psychisch stabiler.
Das Oberlandesgericht änderte die amtsgerichtliche Entscheidung ab und übertrug das alleinige Recht zur Aufenthaltsbestimmung und zur Regelung der ärztlichen Versorgung sowie der schulischen Angelegenheiten auf den Vater.
Gegen die Entscheidung des Oberlandesgerichts legte die Verfahrensbeiständin Verfassungsbeschwerde ein. Das Bundesverfassungsgericht entschied zunächst im Eilverfahren, dass das Kind bis zur endgültigen Klärung des Gerichtsverfahrens zur eventuellen Rückführung des Kindes bei der Pflegefamilie verbleiben könne.
Das Bundesverfassungsgericht entschied nun auch im Hauptsacheverfahren, dass die Entscheidung des Oberlandesgerichts das Grundrecht des Kindes auf staatlichen Schutz gemäß Art. 2 Abs. 1 und Art. 2 in Verbindung mit Art. 6 Abs. 2 S. 2 GG verletze. Kinder haben einen Anspruch auf den Schutz des Staates, wenn die Eltern ihrer Pflege- und Erziehungsverantwortung (Art. 6 Abs. 2 Satz 1 GG) nicht gerecht werden oder wenn sie ihrem Kind den erforderlichen Schutz und die notwendige Hilfe aus anderen Gründen nicht bieten können.
Bei Anhaltspunkten dafür, dass das Kind bei einer Rückführung in die Herkunftsfamilie weiterhin einer Gefährdung ausgesetzt ist, müsse das Gericht nachvollziehbar darlegen, weshalb es eine Trennung von Eltern und Kind nicht mehr für erforderlich halte. Dies gelte insbesondere dann, wenn das Gericht der Einschätzung der Sachverständigen oder der beteiligten Fachkräfte nicht folge. Jugendamt und die Verfahrensbeiständin sprachen sich mehrfach für einen Verbleib des Kindes in der Pflegefamilie aus. Weicht das Gericht von der Einschätzung der beteiligten Fachkräfte ab, bedarf es einer eingehenden Auseinandersetzung und Begründung.
Das Oberlandesgericht hat nach Einschätzung des Bundesverfassungsgerichts nicht sämtliche festgestellten prognoserelevanten Umstände in die erforderliche Prognose über eine Kindeswohlgefährdung einbezogen.
Beschluss des Bundesverfassungsgerichts
Schutz der Informantendaten vor Weitergabe
Landgericht Koblenz, Beschluss vom 15. September 2022
Az. 4 Qs 56/22
Das Kreisjugendamt leitete aufgrund eines Hinweises auf Drogenkonsum während der Schwangerschaft, ein Verfahren zum Schutz des ungeborenen Kindes der Anzeigenerstatterin ein. Nachdem die werdende Mutter durch eine Mitarbeiterin des Kreisjugendamtes vor Ort aufgesucht wurde und Kenntnis über die Vorwürfe erlangte, erstattete sie Anzeige gegen Unbekannt. Die Staatsanwaltschaft leitete daraufhin ein Verfahren gegen Unbekannt wegen falscher Verdächtigung gemäß § 164 StGB ein.
Das Amtsgericht Koblenz ordnete zunächst durch Beschluss die Durchsuchung der Räume des Jugendamts zur Auffindung der Unterlagen und gegebenenfalls deren Beschlagnahme zum Verfahren betreffend der Anzeigeerstatterin nach § 98 StPO an. Hiergegen legte die Kreisverwaltung erfolgreich Beschwerde ein. Das Landgericht entschied, dass die Durchsuchungs- sowie Beschlagnahmeanordnung rechtswidrig ergangen waren, da die besonderen sozialdatenschutzrechtlichen Bestimmungen gemäß § 73 SGB X insoweit den allgemeinen strafprozessualen Vorschriften vorgehen.
Die Staatsanwaltschaft Koblenz beantragte daraufhin beim Amtsgericht Koblenz die Anordnung der unbeschränkten Offenbarung des kompletten Verwaltungsvorgangs hinsichtlich des vermeintlichen Drogenkonsums der Anzeigeerstatterin gemäß §§ 35 Abs. 1 und 2 SGB I, 73 Abs. 1 SGB X, hilfsweise die Anordnung der beschränkten Offenbarung gemäß § 73 Abs. 2 SGB X. Das Amtsgericht Koblenz ordnete die beschränkte Offenbarung der lediglich zur Identitätsfeststellung dienenden Daten, Angaben zu derzeitigen und früheren Anschriften der betroffenen Person sowie Namen und Anschriften ihrer derzeitigen und früheren Arbeitgeber gemäß §§ 35 Abs. 1 und 2 SGB I, 73 Abs. 2 SGB X an. Hiergegen wandte sich das Kreisjugendamt im vorliegenden Verfahren erneut erfolgreich.
Das Landgericht Koblenz entschied, dass einer Offenbarung der zur Identitätsfeststellung dienenden Daten der besondere Vertrauensschutz nach § 65 SGB VIII entgegenstehe. Der Schutz von Kindern und Jugendlichen könne nicht gewährleistet werden, wenn jeder Informant sich der Gefahr einer Strafanzeige oder Unterlassungsklage aussetzen würde. Potentielle Informanten könnten davon absehen Mitteilungen gegenüber dem Jugendamt zu machen und so würden zahlreiche Kindeswohlgefährdungen und Kindesmisshandlungen unentdeckt bleiben. Zur Abwehr von Kindeswohlgefährdungen schützt § 65 SGB VIII auch das Interesse eines Informanten, dass dessen Angaben zu Kindeswohlgefährdungen und seine Identität vertraulich behandelt werden. Etwas anderes gilt nach Auffassung des Landgerichts nur, wenn der Informant eindeutig wider besseren Wissens Falschbehauptungen mit Schädigungsabsicht erhoben hat und feststeht, dass keine Gefahr für das Wohl von Kindern oder Jugendlichen bestand.
Die Entscheidung ist nicht veröffentlicht.
Sozialversicherungspflichtige Tätigkeit einer vom Träger der Jugendhilfe beauftragte Pflegemutter
Landessozialgericht Niedersachsen-Bremen, Urteil vom 7.September2022
Az. L 2 BA 6/22
Die Klägerin schloss mit dem Beigeladenen, dem Träger des örtlichen Amtes für Jugendhilfe, eine Vereinbarung über die vorübergehende Aufnahme von minderjährigen Jungen/Mädchen im Alter von Geburt bis 12 Jahren. Als Gegenleistung war ein heilpädagogisches Pflegekindergeld in Höhe von zunächst monatlich 305 € auch ohne Zuweisung von Pflegekindern für die Vorhaltung von Räumen vereinbart. Bei Aufnahme gab es zusätzlich das Pflegekindergeld, welches nach Alter differierte und sich über die Jahre erhöhte. Die Klägerin beantragte bei der Beklagten die Feststellung des sozialversicherungsrechtlichen Status im Verhältnis zum Beigeladenen. Sie war der Ansicht die Formulierungen im Vertrag entsprächen denen eines Arbeitsvertrages. Das SG Stade wies die Klage ab, woraufhin die Klägerin Berufung einlegte. Diese wies das LSG Niedersachsen-Bremen ebenfalls ab.
Das Gericht ist der Ansicht, die Pflegetätigkeit sei keine zu Erwerbszwecken ausgeübte Tätigkeit. Aus der monatlichen Zahlung fester Beträge folge nicht die Zuordnung der Pflegetätigkeit zum rechtlichen Typus der Beschäftigung. Es handele sich vielmehr um eine sozialversicherungsfreie ehrenamtliche Tätigkeit, welche demgegenüber ihren Charakter durch ihre ideellen Zwecke und Unentgeltlichkeit erhalte. Bei den der Klägerin gewährten Zuwendungen vom Beigeladenen handele es sich um eine pauschalierte Aufwandsentschädigung und nicht um eine (verdeckte) Entlohnung. Auch die Höhe der finanziellen Zuwendungen führe im Rahmen der Evidenzkontrolle nicht zu einer beitragspflichtigen Entlohnung. Diese stünden hier nicht im Missverhältnis zur Leistung.
Urteil des Landessozialgerichts Niedersachsen-Bremen
Zuständigkeit für eine Hilfe nach § 19 SGB VIII bei bestehender Leistungskonkurrenz
Verwaltungsgericht München, Urteil vom 7. September 2022
Az. M 18 K 18.1925
Seit mehreren Jahren erhielt die mittlerweile volljährige und schwangere Leistungsempfängerin Leistungen der Sozialhilfe, zuletzt Eingliederungshilfe in Form des betreuten Wohnens durch den Kläger.
Im Jahr 2016 zog sie, nachdem ihr Hilfe nach § 19 SGB VIII bewilligt wurde, in eine Eltern-Kind-Einrichtung. Die Kostenübernahme erfolgte durch den Kläger bis zum 1. Januar 2017. Da die Mutter am 2. Januar 2017 das 27. Lebensjahr vollende, sei nach Auffassung des Klägers ab diesem Zeitpunkt das Jugendamt auch für die Kosten der geistig behinderten Mutter nach § 10 Abs. 4 SGB VIII zuständig.
Das beklagte Jugendamt bewilligte die Kosten des Kindes, lehnte eine Kostenübernahme der Mutter jedoch ab. Das Leistungsangebot des SGB VIII richte sich explizit an Kinder, Jugendliche und junge Menschen bis zum 27. Lebensjahr. Eine vollstationäre Unterbringung von Elternteilen jeden Alters im Rahmen einer Jugendhilfeleistung könne nicht gewollt sein. Zudem seien die persönlichen Defizite der Mutter eindeutig auf ihre geistige Behinderung zurückzuführen. Das jugendhilferechtliche Ziel des § 19 SGB VIII könne damit nicht erzielt werden und ein Vorrang der Eingliederungshilfe sei gegeben.
Der Kläger gewährte aufgrund der strittigen Zuständigkeit die Leistung nach § 43 SGB I vorläufig weiter. Die vorrangige Zuständigkeit des Klägers gemäß § 10 Abs. 4 SGB VIII gelte nur, bis der Elternteil das 27. Lebensjahr vollendet habe. Danach habe die Mutter einen Anspruch auf Leistungen der Jugendhilfe und es bleibe gemäß § 10 Abs. 4 SGB VIII beim Vorrang der Jugendhilfe.
Da der Beklagte eine Fallübernahme und Kostenerstattung weiterhin ablehnte, hat der Kläger die vorliegende Klage beim Verwaltungsgericht München erhoben.
Das Verwaltungsgericht hat entschieden, dass die zulässige Klage begründet ist.
§ 19 SGB VIII setze einen Unterstützungsbedarf voraus, der in der Persönlichkeitsentwicklung des alleinsorgenden Elternteils begründet sei. Das Persönlichkeitsdefizit müsse nicht auf fehlender Reife zur Erziehung, sondern könne auch auf seelischer, geistiger oder körperlicher Behinderung des Elternteils beruhen. Maßstab sei daher immer das Entwicklungspotential im Hinblick auf die Elternkompetenz und nicht auf die Erreichbarkeit der Verselbstständigung.
Nach Ansicht des Verwaltungsgerichts ist der Anspruch der Leistungsempfängerin nach § 19 SGB VIII gegenüber dem Anspruch auf Eingliederungshilfe nach § 53 SGB XIII für über 27-Jährige Personensorgeberechtige gemäß § 10 Abs. 4 SGB VIII vorrangig. Der Beklagte sei somit zur Erstattung der Kosten verpflichtet.
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