Zur qualifizierten Inaugenscheinnahme im Altersfeststellungsverfahren des § 42f SGB VIII
Oberverwaltungsgericht Bremen, Beschluss vom 21. Juli 2023
Az. 2 B 114/23
Der Antragsteller meldete sich am 2. Oktober 2022 bei einer Erstaufnahmeeinrichtung in Bremen als unbegleiteter minderjähriger Ausländer. Er gab an, in Afghanistan geboren zu sein. Eine erkennungsdienstliche Behandlung ergab für die Fingerabdrücke des Antragstellers zwei Treffer in der Eurodac-Datenbank; den dortigen Einträgen zufolge hatte er am 24.08.2022 in Bulgarien und am 25.09.2022 in Österreich Asylanträge gestellt. Im Rahmen einer qualifizierten Inaugenscheinnahme zur Alterseinschätzung gab der Antragsteller an, in Afghanistan eine Tazkira besessen zu haben, in der sein Geburtsdatum gestanden habe. Die Tazkira habe er beim Umziehen verloren. An das dort vermerkte islamische Geburtsdatum könne er sich nicht mehr erinnern, da er einen Unfall erlitten habe. Da die Mitarbeitenden des Jugendamtes den Antragsteller nach Einholung eines medizinisch-anthropologischen Sachverständigengutachtens als volljährig einschätzten, beendete das Jugendamt mit Bescheid vom 27. Oktober 2022 die vorläufige Inobhutnahme. Hiergegen legte der Antragsteller am 7. November 2022 Widerspruch ein; am 19. Januar 2023 hat er beim Verwaltungsgericht zudem die Anordnung der aufschiebenden Wirkung beantragt. Das Verwaltungsgericht hat den Eilantrag abgelehnt, wogegen der Antragsteller Beschwerde beim Oberverwaltungsgericht erhoben hat.
Nach Auffassung des Oberverwaltungsgerichts ist die Beschwerde unbegründet. Die Frage, ob eine vorläufig nach § 42a SGB VIII in Obhut genommene Person voll- oder minderjährig ist, unterliege umfassender verwaltungsgerichtlicher Kontrolle. Aus der Begründung der Beschwerde ergäben sich indes keine im Ergebnis durchgreifenden Zweifel gegen die Annahme der Antragsgegnerin, dass der Antragsteller volljährig sei.
Es könne von einer Person, die geltend macht, dass sie minderjährig und daher nach § 42a Abs. 1 SGB VIII vorläufig in Obhut zu nehmen ist, erwartet werden, dass sie schlüssige und glaubhafte Angaben zum bisherigen Entwicklungsverlauf – unter Einschluss des Zeitpunkts der Ausreise aus dem Heimatland – macht, die eine zeitliche Zuordnung zulassen und Rückschlüsse auf das Alter erlauben. Pauschale Behauptungen und Ungereimtheiten können in Verbindung mit dem äußeren Erscheinungsbild dazu führen, dass dem Betreffenden die Altersangabe nicht abgenommen werden kann. Gesundheitliche Probleme durch einen Unfall seien zudem nicht substantiiert vorgetragen worden.
Keine Anordnungskompetenz des Familiengerichts gegenüber dem Jugendamt aus § 1666 BGB
Oberlandesgericht Brandenburg, Beschluss vom 17. Juli 2023
Az. 9 UF 111/23
Mit Beschluss vom 6. April 2023 hat das Amtsgericht im Wege der einstweiligen Anordnung der bis dahin allein sorgeberechtigten Mutter teilweise die elterliche Sorge für ihr Kind hinsichtlich des Aufenthaltsbestimmungsrechts, der Gesundheitsfürsorge und das Recht auf Beantragung von Hilfen zur Erziehung entzogen und das beteiligte Jugendamt als Ergänzungspfleger bestellt. Hintergrund für die gerichtliche Maßnahme war die seit Jahren anhaltende Überforderung der Mutter mit der Betreuung und Versorgung ihres Sohnes.
Nach Anhörung der Mutter, der Verfahrensbeiständin und des Jugendamtes hat das Amtsgericht – angesichts der Erklärung der Mutter, mit in eine Mutter-Kind-Einrichtung zum Zwecke des Clearings zu gehen - mit Beschluss vom 09.05.2023 die einstweilige Anordnung hinsichtlich des teilweisen Sorgerechtsentzugs und der Anordnung der Ergänzungspflegschaft aufgehoben und das Jugendamt beauflagt, die zeitnahe Unterbringung der Kindesmutter und des Kindes in einer geeigneten Einrichtung zum Zwecke des Clearings zu betreiben. Gegen den Beschluss richtet sich die Beschwerde des Jugendamtes mit der es die Aufhebung der erteilten Auflage mit der Begründung erstrebt, diese Hilfemaßnahme sei nicht geeignet, den Bedarfen der Mutter und des Kindes gerecht zu werden. Eine auf die Bedürfnisse des Kindes abgestimmte und notwendige heilpädagogische Betreuung könne in diesem Rahmen nicht erfolgen.
Der Senat hat der zulässigen Beschwerde des Jugendamtes stattgegeben und den Beschluss des Amtsgerichts aufgehoben. Eine Rechtsgrundlage für die gegenüber dem Jugendamt angeordnete gerichtliche Maßnahme sei nicht gegeben.
Eine Anordnungskompetenz des Familiengerichts gegenüber dem Jugendamt folge nicht aus § 1666 Abs. 3 Nr. 1 BGB. Das Gebot, Hilfe „in Anspruch zu nehmen“ richte sich seinem Wortlaut nach an den Hilfsbedürftigen und setze zudem ein zur Verfügung stehendes Hilfsangebot voraus, welches in Anspruch genommen werden kann. Eine Rechtsgrundlage für einen Selbsteintritt oder eine Ersetzungsbefugnis des Familiengerichts für erforderlich erachtetes Verwaltungshandeln beziehungsweise für fachliche Weisungen zur Ausübung des behördlichen Einschreitens- oder Ausübungsermessens sei darin jedoch nicht zu sehen.
Eine solche könne insbesondere auch nicht in § 1666 Abs. 4 BGB gesehen werden. Eine Befugnis des Familiengerichts zum Erlass von Anordnungen zur Durchsetzung des Kindeswohls gegenüber Behörden sei damit nicht verbunden. Denn Dritte im Sinne der Vorschrift seien nicht Behörden und sonstige Träger der öffentlichen Gewalt. Auf der Grundlage des § 1666 Abs. 4 BGB können die Familiengerichte daher auch die Jugendämter nicht zur Vornahme oder Unterlassung von Maßnahmen der Jugendhilfe nach dem SGB VIII verpflichten.
Oberlandesgericht Brandenburg, Beschluss vom 17. Juli 2023 Az. 9 UF 111/23
Mitwirkungspflicht im Hilfeplanverfahren
Verwaltungsgericht München, Beschluss vom 26. Juli 2023
Az. M 18 E 23.2881
Die Eltern des Kindes L. beantragten im Wege des einstweiligen Rechtsschutzes den Antragsgegner, das zuständige Jugendamt, zu verpflichten, über ihren Antrag auf Gewährung von Hilfe zur Erziehung in Form von Erziehungsbeistand gemäß §§ 27,30 SGB VIII zu entscheiden.
Vorangegangen war die Kontaktaufnahme der Antragsteller mit dem Antragsgegner nach Umzug in dessen Zuständigkeitsbereich und dem aktuellen Aufenthalt von L. in teilstationärer und vollstationärer psychiatrischer Behandlung. Nach intensivem schriftlichen wie telefonischen und persönlichem Kontakt wurde von dem Antragsgegner als Lösungsvorschlag „Familienrat zur ambulanten Unterstützung, Anbindung an Therapeuten“ entwickelt. Die Antragsteller beantragten diesen auch zunächst, es erfolgte jedoch nach mehr als zwei Monaten keine Reaktion des Antragsgegners. Aufgrund der dringend notwendigen Hilfe stellten die Eltern nunmehr einen Antrag auf ambulante Hilfe zur Erziehung in Form eines Erziehungsbeistandes. Daraufhin stellte das Jugendamt klar, der Familienrat sei integraler Bestandteil der Hilfeplanung nach § 36 SGB VIII und sei Voraussetzung für die potentielle Einleitung von Jugendhilfemaßnahmen. Es obliege dem Jugendamt, die Art und Weise der Hilfeplanung zu gestalten. Die Antragsteller erwiderten daraufhin, dass der Familienrat gesetzlich nicht verbindlich sei und sie keinen Familienrat mehr wollten, vielmehr den beantragten Erziehungsbeistand.
Die Antragsteller beantragten, den Antragsgegner zu verpflichten, über den Antrag auf Jugendhilfeleistungen zu entscheiden und den Hilfebedarf zu prüfen.
Nach Auffassung des Verwaltungsgerichts München ist der zulässige Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung begründet.
Die Antragsteller haben einen Anspruch auf die Durchführung eines Hilfeplanverfahrens gemäß § 36 SGB VIII ohne die zwingende Durchführung eines Familienrats glaubhaft gemacht. Der Familienrat sei nicht notwendiger Bestandteil der Hilfeplanung und die Einleitung einer Hilfe zur Erziehung könne auch ohne Durchführung eines Familienrats eine sachgerechte Jugendhilfe ermöglichen. Das Gericht führt aus, es sei schon nicht ersichtlich, inwieweit der Antragsgegner seiner Beratungspflicht nach § 36 SGB VIII ausreichend nachgekommen sei. Daneben fehle es an der Durchführung eines Hilfeplanverfahrens, das den Gegebenheiten des Einzelfalles entspreche, indem auf die Durchführung eines Familienrats verzichtet werde. Entscheidungen über Hilfen zur Erziehung sollten nicht einseitig durch das Jugendamt getroffen und vollzogen werden, sondern es sollte ein gemeinsam gestalteter Hilfeprozess stattfinden, der mit einer umfassenden Beratung der Leistungsadressaten eingeleitet und auch mit der Möglichkeit versehen wird, Ausnahmen zuzulassen, wenn beispielweise der Familienrat nicht gewünscht ist. Richtig sei zwar, dass dem Jugendamt grundsätzlich die Ausgestaltung des Hilfeplanverfahrens obliege, die Ausgestaltung müsse sich aber dem Einzelfall anpassen und dürfe nichts abverlangen, was gesetzlich nicht vorgeschrieben sei.
Verwaltungsgericht München, Beschluss vom 26. Juli 2023 Az. M 18 E 23.2881
|