Verpflichtung des Jugendamtes zur vorläufigen Inobhutnahme bis zur Altersfeststellung
Verwaltungsgericht München, Beschluss vom 14. September 2023
Az. M 18 E 23.3992
Der Antragsteller, der nach eigenen Angaben minderjährig ist und aus Sierra Leone stammt, begehrt im Wege einer einstweiligen Anordnung vorläufig vom Antragsgegner, dem Jugendamt, in Obhut genommen zu werden.
In der Erstaufnahmeeinrichtung für Asylbewerber wurden in der Niederschrift zum Asylantrag zwei unterschiedliche vermeintliche Geburtsdaten festgehalten, wonach der Antragsteller in einem Fall nicht minderjährig wäre. Die Alterseinschätzung einer Mitarbeiterin des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge ergab am 7. Juni 2023 eine wahrscheinliche Minderjährigkeit.
Das Jugendamt führte am 4. Juli 2023 ein Alterseinschätzungsgespräch durch. Der Antragsteller gab an, 17 Jahre alt zu sein. In der Akte ließen sich unterschiedliche Geburtsdaten erkennen, Papiere oder Dokumente aus der Heimat seien nicht vorhanden gewesen, andererseits sei von einer handschriftlichen Geburtsurkunde die Rede gewesen, die aber kein Geburtsdatum enthalte. Aufgrund des Altersfeststellungsgesprächs lehnte das Jugendamt die vorläufige Inobhutnahme ab, da die Volljährigkeit durch diverse Gründe indiziert sein, etwa Stimmlage, Körperbehaarung, Gesprächsführung.
Der Antragssteller erhob am 10. August 2023 Klage gegen den Bescheid vom 31. Juli 2023 beim VG München und beantragte, in Obhut genommen zu werden, zudem im Wege der einstweiligen Anordnung bis zur Klärung der Hautsache vorläufig in einer jugendgerechten Einrichtung untergebracht zu werden.
Das Gericht hat dem Antrag stattgegeben. Es stellte fest, dass der Antragsteller aus Gründen des Minderjährigenschutzes zunächst vorläufig hätte in Obhut genommen werden müssen. Eine qualifizierte Inaugenscheinnahme durch Mitarbeitende des Jugendamtes gemäß § 42f Absatz 1 Satz 1 SGB VIII sei lediglich dann als zur Altersfeststellung als geeignet anzusehen, wenn es darum gehe Fälle evidenter, offensichtlicher Minderjährigkeit festzustellen. Im Zweifelsfall nach § 42f Absatz 2 Satz 1 SGB VIII sei das Jugendamt zunächst zur vorläufigen Inobhutnahme und im Folgenden zur Veranlassung einer ärztlichen Untersuchung zur Altersfeststellung verpflichtet. Ob ein Zweifelsfall vorliege, unterliege als unbestimmter Rechtsbegriff ohne Beurteilungsspielraum umfassender verwaltungsgerichtlicher Kontrolle; eine Einschätzungsprärogative des Jugendamtes bestehe nicht.
Das Ergebnis der Alterseinschätzung sei nicht Voraussetzung für eine vorläufige Inobhutnahme, vielmehr sei die Alterseinschätzung selbst erst Aufgabe im Rahmen der vorläufigen Inobhutnahme.
Verwaltungsgericht München, Beschluss v. 14.09.2023 – M 18 E 23.3992
Begründung eines gewöhnlichen Aufenthaltes
Verwaltungsgericht Aachen, Urteil vom 16. Oktober 2023
Az. 1 K 1476/22
Die Klägerin gewährte aufgrund einer gemäß § 86 Absatz 1 Satz 1 SGB VIII bestehenden Zuständigkeit den sorgeberechtigten Eltern für ihre beiden gemeinsamen Kinder Hilfe zur Erziehung.
Aufgrund einer Zwangsräumung verzog die Mutter mit den Kindern in den Zuständigkeitsbereich der Beklagten. Der Vater wurde von Amts wegen nach unbekannt abgemeldet, jedoch gab es Hinweise, dass er sich zumindest zeitweise im Haushalt der Mutter im Bereich der Beklagten aufhielt.
Nach Ansicht der Klägerin haben beide Elternteile nach der Zwangsräumung einen gewöhnlichen Aufenthalt im Bereich der Beklagten begründet, sodass die Zuständigkeit gemäß § 86 Absatz 1 Satz 1 SGB VIII auf die Beklagte übergehe. Die Klägerin beantragte daraufhin bei der Beklagten gemäß § 89c Absatz 1 Satz 1 SGB VIII die Erstattung der Kosten, die sie aufgrund ihrer nach § 86c SGB VIII bestehenden Verpflichtung aufgewendet habe.
Die Beklagte lehnte die Kostenerstattung ab, da der Vater keinen gewöhnlichen Aufenthalt im Zuständigkeitsbereich der Beklagten begründet habe. Die Klägerin sei daher weiterhin gemäß § 86 Absatz 5 Satz 2 SGB VIII zuständig.
Gegen die Ablehnung erhob die Klägerin Klage vor dem Verwaltungsgericht Aachen.
Die Klage ist unbegründet. Die Klägerin bleibt weiterhin nach § 86 Absatz 5 Satz 2 SGB VIII zuständig.
Der Vater habe im Bereich der Beklagten keinen gewöhnlichen Aufenthalt begründet. Sein Aufenthalt in der Wohnung der Mutter sei lediglich für wenige Tage während der Hilfe beim Umzug erfolgt. Die Mutter habe in dieser Zeit auf dem Sofa geschlafen, was deutlich mache, dass ein zukunftsoffener Aufenthalt des Vaters nicht beabsichtigt war. Ebenfalls zu berücksichtigen sei, dass die Wohnung, für die der Mietvertrag lediglich mit der Mutter geschlossen wurde, nur für die Mutter und ihre Kinder groß genug war. Zudem habe der Vater seine Möbel und Kleidung nicht mit in die Wohnung der Mutter gebracht, sondern bei einem Freund untergestellt. Insgesamt fehle es an der für einen zukunftsoffenen gewöhnlichen Aufenthalt „bis auf Weiteres“ notwendigen Verfestigung der Lebensverhältnisse.
Verwaltungsgericht Aachen, 1 K 1476/22
Sicherstellung der fachlichen Eignung und personellen Ausstattung der Jugendämter
Oberlandesgericht Hamm, Beschluss vom 14. September 2023
Az. 2 WF 58/23
Durch Beschluss des Amtsgerichts wurde den Eltern die elterliche Sorge für das beteiligte Kind entzogen und das Jugendamt der Stadt B am 17. Januar 2011 als Vormund bestellt. Das Jugendamt beantragte am 21.November 2022 aus der Vormundschaft entlassen zu werden und Mitarbeiterinnen des Vormundschaftsvereins N als neuen Vormund zu bestellen. Aus strukturellen und organisatorischen Gründen könne die Stadt B im Zuge der am 1. Januar 2023 in Kraft tretenden Vormundschaftsreform, insbesondere vor dem Hintergrund des Gebots der funktionellen, organisatorischen und personellen Trennung der Aufgaben der Vormundschaft von anderen Tätigkeiten im Jugendamt gemäß § 55 Absatz 5 SGB VIII, die Aufgaben des Vormundes nicht mehr gewährleisten. Der Vormundschaftsverein N könne hingegen eine Kontinuität in der Wahrnehmung der Personensorge sicherstellen.
Das Amtsgericht hat den Antrag des Jugendamtes zurückgewiesen, gegen diesen Beschluss richtet sich die Beschwerde des Jugendamtes.
Die Beschwerde ist zulässig, aber nicht begründet.
Das Gericht stellt fest, dass die Voraussetzungen des § 1804 Absatz 1 und 2 BGB, unter welchen das Familiengericht den Vormund zu entlassen hat, nicht vorliegen und auch nicht geltend gemacht würden. Die Berufung auf § 1804 Absatz 3 S. 1 BGB habe keinen Erfolg.
Mit dem Entlassungsantrag des Jugendamtes würden gerade keine individuellen, mündelbezogenen Gründe vorgetragen. Die vorgebrachten Gründe struktureller und organisatorischer Art können nicht geltend gemacht werden. Vielmehr habe der Staat die fachliche Eignung und ausreichende personelle Ausstattung der Jugendämter sicherzustellen. Deren Fehlen kann daher weder der Bestellung eines Jugendamtes als Vormund entgegenstehen noch zu seiner Entlassung als Vormund führen. Hieran habe sich auch durch die Gesetzesreform nichts geändert.
Oberlandesgericht Hamm, Beschluss vom 22.09.2023 - 2 WF 58/23
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