Unzumutbarkeit der Annahme des angebotenen Kita-Platzes aus religiösen Gründen
Oberverwaltungsgericht Bremen, Beschluss vom 22. September 2023
Az. 2 B 222/23
Im Januar 2023 beantragten die Eltern der Antragstellerin gegenüber der Antraggegnerin die Zuweisung eines Kinderbetreuungsplatzes von 30 Stunden pro Woche ab dem 1. August 2023. Nachdem zunächst kein Angebot durch die Antraggegnerin erfolgte, teilten die Eltern in einem Schreiben vom 24. April 2023 der Antraggegnerin mit, dass sie ab sofort einen Betreuungsplatz benötige, damit die Mutter der Antragstellerin arbeiten könne und die Antragstellerin bereits den Privatkindergarten „K“ besuche.
Am 3. Juli 2023 beantragte die Antragstellerin, die Antraggegnerin im Wege des einstweiligen Rechtsschutzes zu verpflichten, ihr ab dem 1. August 2023 einen Platz im Privatkindergarten „K“ zuzuweisen und die Kosten dafür zu übernehmen oder hilfsweise die Antraggegnerin zu verpflichten ihr einen anderen Betreuungsplatz zuzuweisen. Ein während des Eilverfahrens von der Antraggegnerin angebotener Platz in einer Kita der Bremischen Evangelischen Kirche lehnten die Eltern der Antragstellerin mit der Begründung ab, ihre Familie sei katholischen Glaubens und „kirchengemeindlich eingebunden“.
Das Verwaltungsgericht Bremen lehnte es ab, der Antragstellerin einstweiligen Rechtsschutz zu gewähren. Die hiergegen gerichtete zulässige Beschwerde der Antragstellerin hat das OVG Bremen zurückgewiesen.
Nach Ansicht des Gerichts bestehe weder aus dem Leistungsanspruch des § 24 Absatz 3 SGB VIII noch aus dem Wunsch- und Wahlrecht nach § 5 Absatz 1, Satz 1 SGB VIII ein Anspruch auf einen bestimmten Platz in einer bestimmten Tageseinrichtung. Zudem scheitere die Zuweisung bereits daran, dass „K“ eine nicht öffentlich geförderte Privateinrichtung sei, der Leistungsanspruch aus § 24 Absatz 3 SGB VIII sich aber nur auf öffentlich-rechtliche oder öffentlich-rechtlich geförderte private Betreuungsverhältnisse beziehe.
Der angebotene Kitaplatz in einer Einrichtung der Bremischen Evangelischen Kirche, einer freien Trägerin der öffentlichen Jugendhilfe, sei laut OVG Bremen geeignet den Rechtsanspruch der Antragstellerin aus § 24 Absatz 3, Satz 1 SGB VIII zu erfüllen. Der Umstand, dass die Antragstellerin und ihre Familie dem katholischen, nicht aber dem evangelischen Glauben angehören, mache die Annahme des angebotenen Betreuungsplatzes nicht unzumutbar.
Eine entsprechende Unzumutbarkeit der Inanspruchnahme sei nicht allein deshalb gegeben, da die Erziehungsberechtigten mit der pädagogischen oder weltanschaulichen Ausrichtung der Einrichtung nicht oder nur teilweise übereinstimmen oder sie einer anderen Konfession angehören, als der Träger der Einrichtung. Solange die Einrichtung für andere religiöse oder weltanschauliche Werte und Inhalte offen sei und weder missionarisch tätig sei noch Teilnehmer an religiösen Übungen verpflichte, seien religiöse Bezüge in öffentlichen Pflichtschulen und öffentlichen oder öffentlich geförderten Kindergärten nicht ausgeschlossen. Eine derartige hoch religiöse Prägung sei im Falle der Einrichtung der Bremischen Evangelischen Kirche nicht zu erkennen.
Zudem betont das Gericht, dass nach § 5 I SGB VIII zwar ein Wahlrecht zwischen Betreuungsangeboten in öffentlich-rechtlich betriebenen und privatrechtlich organisierten Tageseinrichtungen bestehe, dies allerdings nur im Rahmen vorhandener Kapazitäten möglich sei. Andere zu Verfügung stehende Betreuungsplätze, welche mehr den Vorstellungen der Eltern entsprächen, seien vorliegend nicht ersichtlich.
Alter als alleinige Maßgabe der qualifizierten Inaugenscheinnahme nach § 42f Abs. 1 SGB VIII
Oberverwaltungsgericht Koblenz, Beschluss vom 26. Januar 2024
Az. 6 B 11162/23.OVG
Die Antragsgegnerin hatte mit Bescheid vom 17. Oktober 2023 die vorläufige Inobhutnahme des Antragstellers beendet. Der vermutlich syrische Antragsteller hatte bei Antragstellung angegeben, minderjährig zu sein, aber er hatte keine aussagekräftigen Ausweispapiere, lediglich ein Foto eines Zivilregisterauszuges und keine weiteren Belege für seine behauptete Minderjährigkeit. Daran änderten auch die erst nach der qualifizierten Inaugenscheinnahme vorgelegten Urkunden (Auszug aus dem Zivilregister, Familienregisterauszug, Geburtsurkunde) nichts. Eine Richtigkeitsgewähr fehlte vor allen auch deswegen, da das in den Urkunden ausgewiesene Geburtsdatum erst zu einem Zeitpunkt nachgetragen wurde, als der Antragsteller sich nicht mehr in Syrien aufhielt, also möglicherweise 15 Jahre später.
Der Antragsteller wendet sich mit seiner Beschwerde erfolgreich gegen Ablehnung der Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes.
Das Oberverwaltungsgericht stellt fest, dass trotz der Dokumentation der qualifizierten Inaugenscheinnahme und den nachträglichen Ergänzungen bei summarischer Prüfung offenbleibe, ob der Antragsteller zweifelsfrei aufgrund seines Alters als ein volljähriger Erwachsener oder als minderjähriger Jugendlicher anzusehen sei. Im vorliegenden Fall könne nicht ausgeschlossen werden, dass ein Zweifelsfall im Sinne von § 42f Abs. 2 S. 1 SGB VIII vorliege, der eine ärztliche Altersfeststellung erforderlich mache.
Sowohl die Antragsgegnerin als auch das Verwaltungsgericht hätten als „auffälligen“ Umstand darauf abgestellt, dass der Antragsteller bei der Benennung seines aktuellen Alters Schwierigkeiten hatte und erst nachrechnen musste. Allerdings lasse sich weder der Dokumentation der Antragsgegnerin noch den Ausführungen des Verwaltungsgerichts entnehmen, ob innerhalb der Gesamtwürdigung berücksichtigt worden sei, dass in vielen Herkunftsländern der südlichen Hemisphäre das Geburtsdatum und damit auch das jeweils aktuelle Lebensalter keine besondere Bedeutung habe. Auch dass der Antragsteller im Rahmen der qualifizierten Inaugenscheinnahme selbstbewusst gewirkt habe und sein Auftreten nicht zum Bild einer hilfebedürftigen Person gepasst habe, reiche nicht aus, einen Zweifelsfall auszuschließen. Es fehlten Aufzeichnungen dazu, inwieweit aufgrund dieses Verhaltens auf ein bestimmtes Alter des Antragsstellers geschlossen werden könne.
Die qualifizierte Inaugenscheinnahme dient nach Auffassung des Oberverwaltungsgerichts allein der Feststellung des Alters der betroffenen Person, denn Minderjährigkeit im Sinne von § 7 Abs. 1 Nr. 1 und Nr. 2 SGB VIII werde nur nach dem Alter, nicht aber nach dem Maß an tatsächlicher Hilfebedürftigkeit bestimmt. Die danach unabhängig von den Erfolgsaussichten vorzunehmende Interessenabwägung falle zu Gunsten des Antragstellers aus.
Beschluss des Oberverwaltungsgerichts Koblenz
Anwendbarkeit des § 89d SGB VIII
Verwaltungsgericht Mainz, Beschluss vom 24. November 2023
Az. 1 K 723/22.MZ
Die in Rheinland-Pfalz geborene Jugendliche wurde, nachdem sie im Ausland aufgegriffen worden war, nach Deutschland in den Zuständigkeitsbereich der Klägerin überstellt. Die Jugendliche wurde daraufhin vom Jugendamt der Klägerin in Obhut genommen und in einer Inobhutnahmestelle untergebracht. Von dort aus sollte sie am nächsten Tag in die Heimunterbringung, aus der sie abgängig war, zurückkehren.
Die Klägerin beantragte die Erstattung der durch die Inobhutnahme entstandenen Kosten gemäß § 89d Absatz 1 und Absatz 2 SGB VIII bei dem beklagten Land. Nachdem der Beklagte sich jedoch geweigert hatte, den Kostenerstattungsanspruch anzuerkennen, erhob die Klägerin Klage vor dem Verwaltungsgericht.
Die Klage hat Erfolg. Nach Auffassung des Verwaltungsgerichts hat die Klägerin einen Kostenerstattungsanspruch gemäß § 89d Absatz 1 SGB VIII. Sie habe die Jugendliche innerhalb eines Monats nach Einreise in das Bundesgebiet rechtmäßig gemäß § 42 Absatz 1 Satz 1 Nr. 2 SGB VIII in Obhut genommen. Der Zweck des Grenzübertritts sei unerheblich, sodass auch, wie im vorliegenden Fall, jugendliche Ausreißer nicht grundsätzlich aus dieser Kostenerstattung ausscheiden würden. Eine Einschränkung auf ausländische junge Menschen ließe sich dem Wortlaut der Vorschrift nicht entnehmen. Da die in Obhut genommene Jugendliche in Rheinland-Pfalz geboren ist, richte sich der Erstattungsanspruch nach § 89d Absatz 2 SGB VIII gegen den Beklagten.
Für die örtliche Zuständigkeit der erfolgten Inobhutnahme sei gemäß § 87 SGB VIII der tatsächliche Aufenthalt maßgeblich. Ob daneben ein gewöhnlicher Aufenthalt der Jugendlichen oder ihrer Personensorgeberechtigten im Inland bestehe, sei für die Bestimmung der örtlichen Zuständigkeit für die Inobhutnahme nicht relevant.
Beschluss des Verwaltungsgerichts Mainz
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