Monatsfrist nach § 42b SGB VIII
Bundesverwaltungsgericht, Urteil vom 26. April 2018
Az. 5 C 11/17
Der Kläger wurde im Jahr 2016 von der Beklagten nach § 42a SGB VIII vorläufig in Obhut genommen und nach einer Alterseinschätzung, mit dem Ergebnis der Volljährigkeit, aus der vorläufigen Inobhutnahme entlassen.
Hiergegen erhob der Kläger Klage und stellte zugleich einen Eilrechtsschutzantrag.
Das Verwaltungsgericht München hat am 7. Dezember 2016 die Beklagte verpflichtet, den Kläger wieder vorläufig in Obhut zu nehmen, da zur Altersbestimmung ein ärztliches Gutachten eigeholt werden müsse.
Die Beklagte nahm den Kläger daraufhin nach § 42a SGB VIII erneut für zwei Tage vorläufig in Obhut und gewährte im Anschluss eine Inobhutnahme nach § 42 SGB VIII.
Das Verwaltungsgericht und der Verwaltungsgerichtshof haben die Beklagte im Hauptsacheverfahren verpflichtet, den Kläger vorläufig nach § 42a SGB VIII in Obhut zu nehmen. Das Alter des Klägers könne nicht allein aufgrund einer qualifizierten Inaugenscheinnahme festgestellt werden. Es müsse vielmehr ein ärztliches Gutachten eingeholt werden, da Minderjährigkeit nicht ohne Weiteres angenommen oder ausgeschlossen werden könne.
Der Kläger hat in der Zwischenzeit die Hauptsache für erledigt erklärt, wohingegen die Beklagte der Erledigungserklärung widersprach und ihr Begehren weiterverfolgte.
Die Klägerin habe Interesse an einer höchstrichterlichen Klärung, was unter einem Zweifelsfall im Sinne des § 42f SGB VIII zu verstehen sei und unter welchen Voraussetzungen im Rahmen der Altersfeststellung ein ärtzliches Gutachten einzuholen sei.
Das Bundesverwaltungsgericht hat entschieden, dass der zulässige Feststellungsantrag begründet ist.
Der Wortlaut des § 42b SGB VIII lege nahe, dass die Monatfrist erst zu laufen beginnt, wenn die Minderjährigkeit des Betreffenden feststehe. Das Verteilungsverfahren betreffe dem ausdrücklichen Wortlaut nach ausschließlich „Kinder und Jugendliche“, also Personen, die minderjährig sind.
Alle Maßnahmen des Jugendamtes im Zusammenhang mit einer Inobhutnahme, einer vorläufigen Inobhutnahme und der Verteilung nach § 42b bis e SGB VIII setzen nach Ansicht des Bundesverwaltungsgerichts voraus, dass Minderjährigkeit besteht.
Die Feststellung der Minderjährigkeit solle vermeiden, dass nachfolgende Maßnahmen der Jugendhilfe revidiert oder rückabgewickelt werden müssen.
Der mit §§ 42a ff. SGB VIII verbundene Zweck einer Verteilung im Bundesgebiet könne möglicherweise nicht vollständig erreicht werden. Das Bundesverwaltungsgericht ist aber der Auffassung, dass dies eine unvermeidbare Folge dessen ist, dass auch die Verteilung an die Minderjährigkeit der betreffenden Personen anknüpfe und das Gesetz damit selbst den mit ihm verbundenen Beschleunigungseffekt unter diesen Vorbehalt stelle.
Entscheidung des Bundesverwaltungsgerichts
Anforderungen an die Einwilligung in medizinische Untersuchungen zur Altersfeststellung bei unbegleiteten ausländischen Minderjährigen
Oberverwaltungsgericht Bremen, Beschluss vom 4. Juni 2018
Az. 1 B 53/18
Der Antragsteller ist guineischer Staatsangehöriger und nach eigenen Angaben am 1. Februar 2001 geboren. Nach Durchführung eines Erstgesprächs lehnte das Jugendamt Bremen Anfang April 2017 die Inobhutnahme ab, da keine Zweifel an der Volljährigkeit des Antragstellers bestünden.
Hiergegen legte der Antragsteller im Mai 2017 Widerspruch ein und stellte beim Verwaltungsgericht Bremen einen Antrag auf Anordnung der aufschiebenden Wirkung.
Im Juni 2017 ordnete das Verwaltungsgericht Bremen die aufschiebende Wirkung des Widerspruchs an, da die von den Mitarbeitern des Jugendamtes getroffene Entscheidung nicht nachvollziehbar sei.
Im Juli 2017 erschien der Antragsteller erneut im Jugendamt und unterschrieb eine „Einwilligung“ in deutscher und französischer Sprache, mit der er bestätigte, über eine „medizinische Untersuchung beim Zahnarzt“ informiert worden zu sein und verstanden zu haben, dass es um eine medizinische Altersfeststellung gehe. Am selben Tag willigte ein Mitarbeiter des Jugendamtes in seiner Funktion als Notvertretung gemäß § 42a Abs. 3 Satz 1 SGB VIII für den Antragsteller in die Untersuchung ein. Das eingeholte medizinische Gutachten kam zu dem Ergebnis, dass der Antragsteller mit sehr großer Wahrscheinlichkeit über 18 Jahre alt sei. Daraufhin wies die Antragsgegnerin den Widerspruch zurück.
Anfang August wurde eine Amtsvormundschaft eingerichtet.
Im August 2017 hat der Antragsteller Klage vor dem Verwaltungsgericht Bremen erhoben und im September 2017 einen Antrag auf Anordnung der aufschiebenden Wirkung der Klage gestellt.
Das Verwaltungsgericht Bremen hat den Antrag im Januar 2018 abgelehnt. Der Antragsteller habe wirksam in die medizinische Untersuchung eingewilligt. Nach Ergebnis der Untersuchung sei er volljährig.
Gegen diesen Beschluss hat der Antragsteller im Februar 2018 vor dem Oberverwaltungsgericht Bremen Beschwerde eingelegt.
Das Oberverwaltungsgericht Bremen hat der Beschwerde stattgegeben. Der Antragsteller selbst habe nicht wirksam in die medizinsiche Untersuchung eingewilligt, außerdem fehle es an einer Einwilligung seines Vertreters. Das medizinische Gutachten sei daher nicht verwertbar.
Wenn eine medizinische Untersuchung zur Altersfeststellung durchgeführt werde, müsse die betroffene Person durch das Jugendamt umfassend über die Untersuchungsmethode und über mögliche Folgen der Altersbestimmung aufgeklärt werden. Das darlegungs- und beweisbelastete Jugendamt müsse eine entsprechende schriftliche Dokumentation vorlegen. Dabei müsse die Aufklärung von einem Mitarbeiter des Jugendamtes, dem Betroffenen und gegebenenfalls einem Dolmetscher unterzeichnet sein. Inhaltlich müsse dem Betroffenen mitgeteilt werden, dass zwar die exakte Bestimmung des Alters nicht möglich sei, dennoch aber durch radiologische Bildgebung mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit festgestellt werden könne, ob der Betroffene über 18 Jahre alt sei. Auch sei über die Folgen des Ergebnisses, die aus der Beendigung der vorläufigen Inobhutnahme in sozial- und aufenthaltsrechtlicher Hinsicht resultierten, zu informieren.
Darüber hinaus sei über die Folgen einer Weigerung, sich der ärztlichen Untersuchung zu unterziehen, aufzuklären. Der Betroffene sei schriftlich darauf hinzuweisen, dass Aufgaben verweigert oder eingestellt und Leistungen versagt oder entzogen werden können, sofern sie an Minderjährigkeit anknüpfen.
Schließlich habe der gesetzliche Vertreter nicht wirksam in die Untersuchung eingewilligt. Mitarbeiter des für die Alterseinschätzung zuständigen Referats seien an der Erteilung einer Einwilligung nach § 42f Abs. 2 Satz 3, 2. Halbsatz SGB VIII gehindert.
Beschluss des Oberverwaltungsgerichts Bremen
Anwendung medizinischer Verfahren zur Altersbestimmung bei unbegleiteten ausländischen Minderjährigen
Oberverwaltungsgericht Bremen, Beschluss vom 4. Juni 2018
Az. 1 B 82/18
Das OVG Bremen hat entschieden, dass eine zuverlässige Bestimmung der Mindestaltersgrenze nur mit mehrfach kombinierten medizinischen Verfahren möglich sei. Nur hiermit sei die eindeutige Feststellung möglich, ob eine Person volljährig oder minderjährig ist.
Das Gericht stellt klar, dass eine exakte Bestimmung des Alters weder möglich noch erforderlich sei. Entscheidend sei vielmehr, dass eine Bestimmung des Mindestalters möglich sei und dadurch Minderjährigkeit des Betroffenen zuverlässig angenommen oder ausgeschlossen werden könne. Bei den Verfahren der forensischen Altersdiagnostik handele es sich um anerkannte ärztliche Untersuchungen im Sinne des § 42f Abs. 2 SGB VIII. Maßgeblich seien die Standards der Arbeitsgemeinschaft für Forensische Altersdiagnostik der Deutschen Gesellschaft für Rechtsmedizin (AGFAD). Diese sehen ein dreistufiges Gutachten vor (körperliche Untersuchung, Röntgenaufnahme des Gebisses und der linken Hand sowie ggf. CT-Untersuchung der Schlüsselbeine). Das Einhalten dieser Standards sei für eine Rechtssicherheit zwingend notwendig. Die in dem Urteil genannte „Hamburger Methode“, bei der die computertomographische Schlüsselbeinuntersuchung weggelassen und mit anderen Verfahren ergänzt wird, genüge diesen Standards nicht. In dem Verfahren wurde die Altersfeststellung daher für unwirksam erklärt.
Beschluss des Oberverwaltungsgerichts Bremen
Vorrang des Kinder- und Jugendhilferechts im asyl- und ausländerrechtlichen Verfahren
Verwaltungsgericht Bremen, Beschluss vom 18. Juni 2018
Az. 2 V 73/18
Der Antragsteller begehrt die Erteilung einer Duldung. Anfang Juni 2017 stellte er als Volljähriger einen Asylantrag und wurde daraufhin einer Aufnahmereinrichtung zugewiesen. Im Juli 2017 wurde der Asylantrag als unzulässig abgelehnt und die Abschiebung nach Italien angeordnet.
Bereits Ende Juni 2017 meldete sich der Antragsteller als Minderjähriger in der Erstaufnahmeeinrichtung in Bremen. Das Jugendamt lehnte die vorläufige Inobhutnahme ab. Die dagegen gerichtete Klage des Antragstellers hatte im August 2017 Erfolg, den Antrag der Antragsgegnerin gegen diese Entscheidung lehnte das Verwaltungsgericht Bremen Anfang Juni 2018 ab. Die Angaben des Antragstellers bezogen auf seine Minderjährigkeit seien nicht als unglaubhaft anzusehen.
Im Dezember 2017 beantragte der Antragsteller die Erteilung einer Duldung beim Migrationsamt der Antragsgegnerin. Diese verwies ihn auf die Erstaufnahmeeinrichtung, der er im Juni 2017 zugewiesen worden war.
Im Februar 2018 erhob der Antragsteller Klage auf Aufhebung des ablehnenden Asylbescheids und auf Fortsetzung des Asylverfahrens.
Schon im Januar 2018 klagte er im vorliegenden Verfahren vor dem Verwaltungsgericht Bremen auf Erteilung einer Duldung durch die Antragsgegnerin. Er habe einen Anspruch auf eine Duldung, da er minderjährig und durch das Jugendamt in Obhut genommen worden sei.
Die Antragsgegnerin beantragte, den Antrag abzulehnen. Sie sei örtlich unzuständig, da der Antragsteller einer Aufnahmeeinrichtung zugewiesen worden sei. Er habe sich dem Verfahren als Erwachsener jedoch nicht gestellt, sondern in Bremen als Minderjähriger gemeldet.
Das Verwaltungsgericht Bremen hat die Antragsgegnerin verpflichtet, dem Antragsteller einer Duldung auszustellen.
Insbesondere sei die Antragsgegenerin örtlich zuständig. Die örtliche Zuständigkeit richte sich nach dem gewöhnlichen Aufenthalt der Person. Ein Ausländer könne nur dort seinen gewöhnlichen Aufenthalt begründen, wo er sich mit behördlicher Billigung ausländerrechtlich aufhalten darf. Der Antragsteller habe seinen gewöhnlichen Aufenthalt in Bremen. Im Juni 2017 habe er aufgrund seiner Minderjährigkeit keinen wirksamen Asylantrag stellen können. Zwar sei die Ausländerbehörde nicht an die Feststellung der Minderjährigkeit im jugendhilferechtlichen Verfahren gebunden, sie könne jedoch die dort gewonnenen Erkenntnisse auch im aufenthaltsrechtlichen Verfahren berücksichtigen. Es gebe keine Anhaltspunkte, von der Einschätzung des Verwaltungsgerichts Bremen im August 2017 und Juni 2018 abzuweichen.
Auch der Antrag auf Aufhebung des Asylbescheids und Fortsetzung des Asylverfahrens führe zu keinem anderen Ergebnis. Zwar könne darin eine nachträgliche Genehmigung des Asylantrags von Juni 2017 zu sehen sein. Daraus folge jedoch keine räumliche Beschränkung des Aufenthalts auf den Bezirk der Ausländerbehörde, in dem die Aufnahmeeinrichtung liegt. Vielmehr werde die aus dem Asylrecht folgende Aufenthaltsbeschränkung durch die jugendhilferechtlichen Vorschriften verdrängt. Es würde dem Schutzzweck des jugendhilferechtlichen Verteilungsverfahrens widersprechen, wenn der Aufenthalt des Minderjährigen nach dem Asylrecht beschränkt wäre, da diese räumliche Beschränkung auf einer Verteilungsentscheidung nach dem Asylgesetz beruhen würde, die das Wohl des Minderjährigen nicht besonders berücksichtige. Der Vorrang des Kinder- und Jugendhilferechts im asyl- und ausländerrechtlichen Verfahren entspreche dem Willen des Gesetzgebers und komme auch im Asylgesetz zum Ausdruck. Im Ergebnis folge die örtliche Zuständigkeit für die Erteilung der Duldung der örtlichen Zuständigkeit nach § 88a Abs. 1 SGB VIII.
Keine Aufhebung einer Minderjährigenehe bei Verletzung des Rechts auf Freizügigkeit
Oberlandesgericht Oldenburg, Beschluss vom 18. April 2018
Az. 13 UF 23/18
Die Eheleute schlossen am 4. August 2017 in Rumänien ihre Ehe. Der Ehemann war zu diesem Zeitpunkt 22 Jahre alt (geboren am 20. Juni 1995), die Ehefrau 16 Jahre alt (geboren am 15. Dezember 2000).
Der Antragsteller beantragte vor dem Amtsgericht Nordhorn die Aufhebung der Ehe. Diesen Antrag wies das Amtsgericht am 31. Januar 2018 zurück. Zur Begründung führte das Amtsgericht aus, dass die Aufhebung der Ehe für die Ehefrau eine schwere Härte darstellen würde, da dadurch ihr als EU-Bürgerin verbrieftes Recht auf Freizügigkeit verletzt würde. Auch die Umstände, dass sie im Dezember 2018 volljährig werde, Mutter eines in Deutschland geborenen Kindes sei, sich in Deutschland eingelebt habe und die Eheschließung ohne Zwang erfolgt sei, rechtfertigten ein Absehen von der Aufhebung der Ehe.
Gegen diese Entscheidung hat der Antragsteller vor dem Oberlandesgericht Oldenburg Beschwerde eingelegt. Er ist der Ansicht, dass kein Härtefall nach § 1315 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 b) BGB vorliege.
Das Oberlandesgericht Oldenburg hat die Beschwerde zurückgewiesen. Die Aufhebung der Ehe führe zu einer außergewöhnlichen Härte für die Ehefrau, da ihr das über die Ehe vermittelte Recht auf Arbeitsnehmerfreizügigkeit und Aufenthalt in Deutschland nach Art. 45 Abs. 3 lit. b) und c) des Vertrages über die Arbeitsweise der Europäischen Union (AEUV) verletzt würde. Die Eheleute kennen sich bereits seit über zweieinhalb Jahren. Die Entscheidung für die Heirat fiel mit Bekanntwerden der Schwangerschaft. Nach eigenen Angaben sei sie von keiner Seite unter Druck gesetzt worden. Nach Stellungnahme des örtlichen Jugendamtes lebe die Familie in geordneten Verhältnissen. Die Aufhebung der Ehe würde dazu führen, dass dem Zusammenleben als Familie mit verheirateten Eltern und Kind die rechtliche Grundlage entzogen würde.
Beschluss des Oberlandesgerichts Oldenburg
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