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25. August 2016 | Soziales
Bundesteilhabegesetz – ja, aber: „Richtiges Ziel, gute Ansätze, Nachbesserung erforderlich.“
LVR-Sozialdezernent Dirk Lewandrowski zum Entwurf des neuen Bundesteilhabegesetzes

Rheinland/Köln, 25. August 2016. Im Rahmen eines großen Fachtags hat sich der Landschaftsverband Rheinland (LVR) als größter Leistungsträger für Menschen mit Behinderung mit dem aktuellen Stand der geplanten gesetzlichen Vorgaben befasst. Knapp 500 Vertreterinnen und Vertreter der Freien Wohlfahrtspflege, weiterer Kostenträger wie der Agentur für Arbeit, der rheinischen Kreise und Städte, der Träger von Wohnangeboten, der Verwaltung und Politik des LVR sowie von Betroffenenverbänden haben hierzu über den viel umstrittenen Gesetzesentwurf heute in Köln diskutiert. Der LVR begrüßt die Gesetzesreform grundsätzlich, fordert aber Nachbesserungen, weil zum Beispiel Menschen mit Behinderung nach wie vor hinsichtlich der Leistungen aus der Pflegekasse diskriminiert werden. Auch die Leistungssysteme Pflegeversicherung, Hilfe zur Pflege und Eingliederungshilfe sind nicht eindeutig klar geregelt.

Interview mit Dirk Lewandrowski, Landesrat und Leiter des LVR-Dezernats Soziales:

Der Kabinettsentwurf des Bundesteilhabegesetzes wurde im Juni verabschiedet und bis Ende des Jahres soll er von Bundestag und Bundesrat verabschiedet werden. Anfang 2017 soll das Gesetz stufenweise in Kraft treten. Was sind die grundlegenden Ziele der Reform und welche Rolle spielt der LVR dabei?

Lewandrowski: Die Reform soll die Leistungen für Menschen mit Behinderung neu regeln. Sie löst – entsprechend den Vorgaben der UN-Behindertenrechtskonvention (UN-BRK) – die Eingliederungshilfe aus der Sozialhilfe heraus und will sie zu einem modernen Teilhabegesetz weiterentwickeln. Als größter Leistungserbringer für Menschen mit Behinderung ist dabei für uns unabdingbar, dass dies ‚kundenfreundlich‘ und unbürokratisch umgesetzt werden muss. Menschen mit Behinderung dürfen keine Bittsteller sein. Sie müssen individuelle Leistungen erhalten, damit sie ihr Leben selbstbestimmt und in der Mitte der Gesellschaft führen können. Gleichzeitig ist der LVR natürlich auch seiner rheinischen Mitgliedskörperschaften hinsichtlich der seit Jahren ansteigenden Ausgaben in der Eingliederungshilfe verpflichtet. Im Rheinland haben sich allein die Kosten für die Wohnhilfen in den letzten neun Jahren um insgesamt über 500 Millionen Euro erhöht. Hier setzen wir uns dafür ein, dass es einen Kostenausgleich für die kommunale Familie gibt. Nach wie vor fehlt die unmittelbare finanzielle Beteiligung des Bundes an den Kosten der Eingliederungsleistungen für Menschen mit Behinderung, wie sie eigentlich im Koalitionsvertrag angekündigt war. Der Bund ist hier aber nun mal in der Verantwortung und die Kosten der gesamtgesellschaftlichen Aufgabe dürfen nicht bei den Kommunen hängen bleiben.

Welche positiven Aspekte sehen Sie im Gesetzesentwurf?

Lewandrowski: Der Bundesgesetzgeber hat viele Projekte und Praktiken aufgegriffen, die vom LVR im Rheinland schon seit vielen Jahren sehr erfolgreich laufen. Bei der Unterstützung zum selbstständigen Wohnen liegt der LVR im Vergleich aller Flächenländer klar an der Spitze. Über 60 Prozent der Leistungsberechtigten wohnen selbstständig in den eigenen vier Wänden. Vor rund 13 Jahren war das genau andersherum. Auch das individuelle Hilfeplanverfahren zur Bedarfsfeststellung, das LVR-Budget für Arbeit und das seit zwölf Jahren existierende Beratungsnetz der KoKoBe (Koordinierungs-, Kontakt und Beratungsstellen) sind Beispiele dafür, dass jetzt Gesetz wird, was wir im Rheinland schon lange erproben und praktizieren. Insofern ist der LVR gut gerüstet, was die Instrumente angeht, die die Menschen mit Behinderung in den Mittelpunkt stellen. Das alles ist richtig und sinnvoll, erfordert aber auch Fachpersonal und Zeit.

Der Gesetzesentwurf sieht vor, dass der Personenkreis neu definiert wird, der Eingliederungshilfe erhalten soll. Wir wirkt sich dies aus?

Lewandrowski: Genau das ist völlig offen! Entsprechend der Grundausrichtung der UN-BRK sollen künftig nicht mehr allein die Einschränkungen und Behinderungen der betroffenen Personen im Fokus stehen, sondern die Teilhabeeinschränkungen, die sich im Wechselspiel der individuellen Voraussetzungen mit den gesellschaftlichen Bedingungen ergeben. Grundsätzlich ist natürlich auch das zu begrüßen. Es wäre aber fahrlässig, den Zugang zu Leistungen der Eingliederungshilfe ohne modellhafte Erprobung flächendeckend neu zu regeln. Menschen, die behinderungsbedingt Unterstützung benötigen, dürfen einerseits nicht von Leistungen ausgeschlossen werden. Andererseits darf keine neue Ausgabendynamik zulasten der Kommunen im Rheinland entstehen. Hier würden in Experimentiermanier womöglich Hoffnungen geweckt, die dann am Ende bitter enttäuscht werden. Kein Auto und kein Spielzeug darf auf den deutschen Markt, bevor es nicht den TÜV bestanden hat. Gleiches muss natürlich auch für eine derartige Veränderung in der Eingliederungshilfe gelten. Die Auswirkungen der neuen Definition der Zielgruppe müssen modellhaft in der Praxis erprobt werden – und zwar vorher. Eine Entscheidung am grünen Tisch in der Ministeriumsstube reicht hierzu nicht aus!

Einen weiteren Kritikpunkt sehen Sie bei den Leistungen der Pflegeversicherung?

Lewandrowski: Das ist richtig. Menschen mit Behinderung, die in Wohneinrichtungen leben, erhalten bereits heute – unabhängig vom Pflegebedarf – eine gedeckelte Pauschale von nur 266 Euro. Das ist eine nicht hinzunehmende Diskriminierung. Menschen mit Behinderung müssen – wie alle anderen auch – unabhängig von der Wohnform gleichberechtigt von den Leistungen der Pflegeversicherung profitieren können. Die Gesetzesentwürfe zum Bundesteilhabegesetz und zum Pflegestärkungsgesetz III weiten die bestehende Diskriminierung allerdings noch weiter aus, was wir scharf kritisieren.

Heftig kritisiert wird auch, dass die Leistungen der Eingliederungshilfe und der Pflege nicht eindeutig abgegrenzt werden. Was bedeutet das konkret für die Menschen mit Behinderung?

Lewandrowski: Hier droht ganz klar Gefahr, dass am Ende Zuständigkeitsstreitereien auf dem Rücken der Betroffenen ausgetragen werden. Der Entwurf bietet einfach keine befriedigende Lösung, sondern verschärft das Problem noch. Ein Beispiel: Assistenzleistungen im außerhäuslichen Bereich, wie zum Beispiel Umkleiden oder der Toilettengang, können sowohl der Pflege als auch der Eingliederungshilfe zugeordnet werden. Wir als LVR wollen nicht, dass diese Interpretationsmöglichkeiten im Gesetz zulasten der Menschen gehen. Eine steigende Zahl von Rechtsstreitigkeiten ist eine Belastung für alle Seiten, nicht zuletzt für die Menschen mit Behinderung. Dies gilt es zu verhindern. Hier muss der Gesetzgeber noch einmal handwerklich nachlegen. Ideen zur Lösung haben der LVR und seine Partner bereits eingebracht.

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Dirk Lewandrowski, Landesrat, LVR-Dezernent Soziales. Foto: LVR
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Ihr Ansprechpartner für redaktionelle Rückfragen:

Michael Sturmberg
Landschaftsverband Rheinland
LVR-Fachbereich Kommunikation
Tel 0221 809-7084
Mail michael.sturmberg@lvr.de

Über den LVR:

Der Landschaftsverband Rheinland (LVR) arbeitet als Kommunalverband mit rund 22.000 Beschäftigten für die 9,8 Millionen Menschen im Rheinland. Mit seinen 41 Schulen, zehn Kliniken, 20 Museen und Kultureinrichtungen, vier Jugendhilfeeinrichtungen, dem Landesjugendamt sowie dem Verbund Heilpädagogischer Hilfen erfüllt er Aufgaben, die rheinlandweit wahrgenommen werden. Der LVR ist Deutschlands größter Leistungsträger für Menschen mit Behinderungen und engagiert sich für Inklusion in allen Lebensbereichen. „Qualität für Menschen“ ist sein Leitgedanke.

Die 13 kreisfreien Städte und die zwölf Kreise im Rheinland sowie die StädteRegion Aachen sind die Mitgliedskörperschaften des LVR. In der Landschaftsversammlung Rheinland gestalten gewählte Mitglieder aus den rheinischen Kommunen die Arbeit des Verbandes.

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