Übertragung des Aufenthaltsbestimmungsrechts auf einen Elternteil
Bundesverfassungsgericht, Beschluss vom 17. November 2023
Az. 1 BvR 1076/23
Die Beschwerdeführerin ist Mutter von zwei in den Jahren 2012 und 2016 geborenen Kindern. Die Eltern trennten sich im Jahr 2020. Seitdem ist das Verhältnis der Eltern hochstrittig und durch eine Vielzahl von kindschaftsrechtlichen Verfahren geprägt. Der Vater behauptet, die Beschwerdeführerin leide an psychischen Problemen und habe ihm die Kinder entfremdet. Die Beschwerdeführerin wirft dem Vater Drogenmissbrauch und Gewalttätigkeit vor.
Im Juli 2020 übertrug das Familiengericht im Wege der einstweiligen Anordnung das Aufenthaltsbestimmungsrecht für beide Kinder dem Vater. Diese Anordnung war anschließend unter Mitwirkung von Jugendamt, Gerichtsvollzieher und der Polizei vollzogen worden, nachdem zuvor bereits zwei auf die Herausgabe gerichtete Polizeieinsätze erfolglos verlaufen waren.
Ein eingeholtes Gutachten im Hauptsacheverfahren war im Oktober 2020 zum Ergebnis gelangt, dass die Kinder ihren Lebensmittelpunkt bei der Beschwerdeführerin haben sollten. Auch die Kinder hätten den Wunsch geäußert, bei der Mutter zu leben und den Vater regelmäßig besuchen zu wollen. Das Familiengericht hatte mit Beschluss vom 17. Februar 2021 das Aufenthaltsbestimmungsrecht dem Gutachten insoweit folgend auf die Beschwerdeführerin übertragen.
Trotz der getroffenen Umgangsregelung ließ die Mutter danach keine Umgangsregelung des Vaters mit den Kindern mehr zu. In einem einstweiligen Anordnungsverfahren wurde das Aufenthaltsbestimmungsrecht vom Familiengericht mit Beschluss vom 15. November 2022 auf den Vater zurückübertragen.
Im weiteren Verlauf des Verfahrens wurde aufgrund des klar geäußerten Willens der Kinder, bei der Beschwerdeführerin leben zu wollen, das Aufenthaltsbestimmungsrecht wieder der Beschwerdeführerin rückübertragen.
Hiergegen legte der Vater Beschwerde ein, mit Beschluss vom 8. Mai 2023 änderte das Oberlandesgericht den Beschluss des Familiengerichts und übertrug das Aufenthaltsbestimmungsrecht wieder auf den Vater und stütze seine Entscheidung auf § 1671 Abs. 1 S. 2 Nr. 2 BGB. Die Übertragung dieses Teilbereichs der elterlichen Sorge auf den Vater entspreche trotz der Ablehnung von Kontakten mit dem Vater durch die Kinder derzeit ihrem Wohl am besten. Die Mutter entfremde die Kinder dem Vater in unzumutbarer Weise.
Mit ihrer Verfassungsbeschwerde macht die Beschwerdeführerin die Verletzung von Art. 6 Abs. 2 GG und Art. 103 Abs. 1 GG geltend.
Die Verfassungsbeschwerde ist zulässig und begründet. Der Beschluss des Oberlandesgerichts vom 8. Mai 2023 verletzt die Beschwerdeführerin in Ihrem Grundrecht aus Art. 6 Abs. 2 S. 1 GG. Bei der Entscheidung über die Aufhebung der gemeinsamen elterlichen Sorge nach § 1671 Abs. 1 oder 2 BGB sei der Wille des Kindes zu berücksichtigen, soweit das mit seinem Wohl vereinbar sei. Mit der Kundgabe seines Willens mache das Kind von seinem Selbstbestimmungsrecht gebrauch. Maßstab und Ziel einer Sorgerechtsentscheidung sei nicht der Ausgleich persönlicher Defizite zwischen den Eltern, sondern allein das Kindeswohl.
Den Anforderungen an die Begründung der fachgerichtlichen Entscheidung genügt der Beschluss des Oberlandegerichts nach Ansicht des Bundesverfassungsgerichts nicht. Er trage dem Elternrecht der Mutter sowohl materiell als auch in seiner Anwendung auf die Verfahrensgestaltung und die Begründungsanforderungen nicht hinreichend Rechnung. Er lasse nicht hinreichend deutlich werden, dass es sich gemäß den verfassungsrechtlichen Vorgaben vorrangig am Wohl des Kindes orientiert und nicht das als Fehlverhalten bewertete Agieren der Beschwerdeführerin sanktionieren wolle.
Das Bundesverfassungsgericht hat den Beschluss des Oberlandesgerichts vom 8. Mai 2023 aufgehoben und die Sache an das Oberlandesgericht zurückverwiesen.
Beschluss des Bundesverfassungsgerichts
Unterhaltsvorschussleistungen bei Mitbetreuung durch den anderen Elternteil
Bundesverwaltungsgericht, Urteil vom 12. Dezember 2023
Az. 5 C 9.22
Die Klägerin beantragte Anfang 2020 Unterhaltsvorschussleistungen für ihre siebenjährigen Zwillinge. Der Beklagte lehnte die Leistung mit der Begründung ab, die Kinder lebten im Sinne des Unterhaltsvorschussgesetzes (UVG) nicht bei der Klägerin, weil sie gemäß einer familienrechtlichen Vereinbarung vierzehntägig von Mittwochnachmittag bis Montagmorgen beim Vater seien, der sie in dieser Zeit betreue. Die auf Gewährung von Unterhaltsvorschussleistungen gerichtete Klage blieb vor dem Verwaltungs- und dem Oberverwaltungsgericht erfolglos. Zur Begründung hat das Oberverwaltungsgericht im Wesentlichen auf das gemeinsame Sorgerecht der Eltern und darauf abgestellt, dass dieses auch tatsächlich praktiziert werde. Dies zeige sich an einem Betreuungsanteil des Vaters, der während der Schulzeiten 36 vom Hundert betrage und zu einer wesentlichen Entlastung der Klägerin bei der Betreuung der Kinder führe.
Das Bundesverwaltungsgericht hat den Beschluss des Oberverwaltungsgerichts aufgehoben und die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung zurückverwiesen.
Der Anspruch auf Unterhaltsvorschussleistungen setze neben ausbleibenden oder unzureichenden Unterhaltszahlungen durch den barunterhaltspflichtigen Elternteil weiter voraus, dass das Kind bei einem Elternteil lebt (§ 1 Abs. 1 Nr. 2 UVG). Das verlange eine auf Dauer angelegte häusliche Gemeinschaft, in der das Kind auch betreut werde. Die Vorschrift knüpfe damit nach ihrem auch bereits in der Gesetzesbegründung zum Ausdruck gebrachten Sinn und Zweck an die durch das Alleinerziehen geprägte prekäre Situation an. Diese bestehe darin, dass das Kind "nur" bei diesem Elternteil lebt, weil hauptsächlich dieser die Betreuung (Pflege und Erziehung) des Kindes tatsächlich wahrnehme und wegen des Ausfalls des anderen Elternteils besonders belastet sei. Außer in den Fällen vollständigen Alleinerziehens liege eine solche Belastung auch dann vor, wenn der Schwerpunkt der Betreuung ganz überwiegend bei diesem Elternteil liege, obgleich auch der andere Elternteil Betreuungsleistungen für das Kind erbringe.
Eine wesentliche Entlastung des einen Elternteils, welche die faktische Gesamtlage der gesetzlich in Bezug genommenen Alleinerziehung und damit den Anspruch auf Unterhaltsvorschuss ausschließe, liege vor, wenn sich der andere (barunterhaltspflichtige) Elternteil in der Weise an der Pflege und Erziehung des Kindes beteiligt, dass sein Betreuungsanteil 40 vom Hundert erreicht oder überschreitet. Der durch die Mitbetreuung eintretende Entlastungseffekt sei insbesondere aus Gründen der Rechtssicherheit sowie unter Berücksichtigung der Verwaltungspraktikabilität ausschließlich im Hinblick auf die Zeiten der tatsächlichen Betreuung zu ermitteln, also nach den Zeiten, die das Kind in der Obhut des einen oder des anderen Elternteils verbringe, und zwar ohne Wertung und Gewichtung einzelner Betreuungsleistungen. Bei ganztätig wechselweiser Betreuung komme es typisierend darauf an, wo sich das Kind zu Beginn des Tages aufhalte. Dem Bezug des Kindergeldes sowie Vereinbarungen zum Umgangsrecht könne demgegenüber nur eine indizielle und dem Bestehen eines gemeinsamen Sorgerechts grundsätzlich keine Bedeutung zukommen.
Da das Oberverwaltungsgericht zu den maßgeblichen tatsächlichen Verhältnissen und zur Zahlung von Unterhalt nach Auffassung des Bundesverwaltungsgerichts keine hinreichenden Feststellungen getroffen hat, ist die Sache zurückverwiesen worden.
Anvertraute Daten im Sinne von § 65 Abs. 1 SGB VIII
Oberverwaltungsgericht Lüneburg, Beschluss vom 28. November 2023
Az. 11 LC 273/21
Der Kläger ist nigerianischer Staatsangehöriger. Er reiste im Jahr 2003 nach Deutschland ein. Sein Asylantrag wurde als offensichtlich unbegründet angelehnt, die dagegen gerichtete Klage als offensichtlich unbegründet abgelehnt. Der Kläger ist seit Januar 2005 vollziehbar ausreisepflichtig. Die Abschiebung des Klägers konnte bis 2020 in Ermangelung von Pass- oder Passersatzpapieren nicht erfolgen. Dem Kläger wurden deshalb seit 2005 aufenthaltsrechtliche Duldungen erteilt. Der Kläger ist im Bundesgebiet wiederholt strafrechtlich in Erscheinung getreten und verurteilt worden. Mit Bescheid von Juli 2012 wies der Beklagte den Kläger aus der Bundesrepublik Deutschland aus.
Im Jahr 2019 wurde das nichteheliche Kind deutscher Nationalität geboren, dessen Vaterschaft der Kläger anerkannte. Im Rahmen der Anerkennung wurde der Heimatpass des Klägers sichergestellt. Das Umgangsrecht des Klägers mit seiner Tochter wurde in einem gerichtlichen Vergleich festgelegt.
Im September 2020 bat ein Mitarbeiter der Ausländerbehörde des Beklagten das Jugendamt des Beklagten um eine Auskunft zum Umgangsrecht des Klägers mit seiner Tochter, woraufhin eine Mitarbeiterin des Jugendamtes Auskunft erteilte und eine perspektivisch nicht stabile Vater-Kind-Beziehung beschrieb.
Der Kläger forderte das Jugendamt des Beklagten auf, Auskunftserteilungen gegenüber der Ausländerbehörde zukünftig zu unterlassen und hat Feststellungsklage bezüglich der Rechtswidrigkeit der Datenübermittlung vom Jugendamt an die Ausländerbehörde erhoben, welche das Verwaltungsgericht in der Vorinstanz als unbegründet abgewiesen hatte. Hiergegen richtet sich die Berufung des Klägers.
Das Oberverwaltungsgericht hat die Berufung des Klägers als unbegründet zurückgewiesen, die Datenübermittlung sei rechtmäßig erfolgt und verletzte den Kläger nicht in seinen Grundrechten aus Art. 2 Abs. 1 GG in Verbindung mit Art. 1 GG und Art 8 Abs. 1 EUGrdRCh (II).
Grundlage der Datenübermittlung seien §§ 87 f. AufenthG. Das Gericht stellt fest, dass es sich vorliegend zwar um Sozialdaten handelt, die nur bei Vorliegen einer besonderen Erlaubnis übermittelt werden dürfen. Im vorliegenden Fall habe § 65 SGB VIII der Übermittlung nicht entgegengestanden, da die Daten der Mitarbeiterin des Jugendamtes der Beklagten nicht zum Zwecke persönlicher und erzieherischer Hilfe anvertraut worden sind. „Anvertraut“ im Sinne des § 65 SGB VIII seien nur die Daten, die dem Mitarbeiter eines Trägers der Jugendhilfe zum Zwecke persönlicher und erzieherischer Hilfe in einem bewussten Akt des Anvertrauens mitgeteilt worden seien oder die dem Mitarbeiter in einem sensiblen Lebensbereich in Erwartung einer Vertraulichkeit bekannt werden. All dies sei vorliegend nicht gegeben.
Für die Übermittlung existierte vielmehr eine spezielle Verarbeitungserlaubnis nach § 71 Abs. 2 S. 1 Nr. 1 d) SGB X.
Beschluss des Oberverwaltungsgerichts Lüneburg
Vorrang des ehrenamtlich tätigen Vormunds
Oberlandesgericht Hamm, Beschluss vom 27.Oktober 2023
Az. 6 UF 104/22
Die getrenntlebenden Eltern des Kindes O. konsumierten in erheblichem Maße Heroin und Kokain und wurden immer wieder rückfällig, bis sie in ein Methadonprogramm aufgenommen wurden. Das Sorgerecht für das im Haushalt der Mutter lebende Kind erhielten die beiden Elternteile durch Beschluss des Amtsgerichts Paderborn zur gemeinsamen Ausübung. Auf Antrag des Jugendamtes wurde am 27. Juli 2021 das aktuelle Verfahren eingeleitet. Anlass waren konkrete Hinweise darauf, dass die Mutter erneut massiv Alkohol und Kokain konsumiere.
Am 28. Juli 2021 wurde das Kind durch das Jugendamt in Obhut genommen und in einer Bereitschaftspflegefamilie untergebracht. In einem einstweiligen Anordnungsverfahren entzog das Amtsgericht Paderborn der Mutter die elterliche Sorge. Im Rahmen dieses Verfahrens beantragte der Vater des Kindes die elterliche Sorge alleine zu übernehmen. Das Amtsgericht hielt die einstweilige Anordnung aufrecht und entzog auch dem Vater aufgrund von Drogenkonsum die elterliche Sorge.
Die Mutter und ihre Eltern hatten seitdem ein 14-tägiges Umgangsrecht mit O., welches sie auch regelmäßig wahrgenommen haben. Nach einem familienpsychologischen Sachverständigengutachten, in welchem geprüft wurde, ob die Großeltern mütterlicherseits die Fähigkeit hätten, die Versorgung und Erziehung es O. zu gewährleisten, hatten die Eltern des O. dem Antrag des Jugendamtes auf Entziehung des Sorgerechts mit der Maßgabe zugestimmt, dass für das Aufenthaltsbestimmungsrecht die Großeltern zum Ergänzungspfleger bestimmt werden. Am 11. Juli 2022 hat das Amtsgericht den Eltern die elterliche Sorge für O. entzogen und die Vormundschaft durch das Jugendamt angeordnet.
Gegen diesen Beschluss wendet sich die Mutter des O. und begehrt anstelle des Jugendamtes ihre Eltern zum Vormund zu bestellen. Die zulässige Beschwerde hat in der Sache Erfolg.
Ist eine geeignete Person vorhanden, die als Vormund ehrenamtlich tätig wäre, ist das Familiengericht an den in § 1779 Abs. 2 S. 2 BGB normierten Vorrang der ehrenamtlich tätigen Person gebunden und hat die Person als Vormund auszuwählen, sofern sich aus der Zusammenschau mit den Auswahlkriterien des § 1778 Abs. 2 BGB nicht ausnahmsweise ergibt, dass ein bestimmter Berufs- oder Vereinsvormund bzw. das Jugendamt besser geeignet im Sinne des § 1778 Abs. 1 ist.
Das Oberlandesgericht ist der Auffassung, dass ein solcher Ausnahmefall nicht vorliegt. Vielmehr habe die Mutter den ausdrücklichen Wunsch geäußert, ihre Eltern als Vormund zu bestellen und das Sachverständigengutachten habe ein zukünftiges Aufwachsen des O. im elterlichen Familiensystem angeregt. Die Großeltern seien geeignet und bereit, die Vormundschaft ehrenamtlich zu führen und somit gegenüber dem Jugendamt vorrangig zu berücksichtigen.
Beschluss des Oberlandesgerichts Hamm
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