Örtliche Zuständigkeit bei vollständigem Verlust des Sorgerechts der getrenntlebenden Eltern
Bundesverwaltungsgericht, Urteil vom 25. April 2024
Az. 5 C 3.23
Mit Pressemitteilung vom 25. April 2024 wies das Bundesverwaltungsgericht auf sein bis zum jetzigen Zeitpunkt noch nicht veröffentlichtes Urteil vom gleichen Tage hin.
In dem entschiedenen Fall lebten die Eltern zunächst im Zuständigkeitsbereich der Beklagten. Der Vater verblieb dort auch nach der Trennung gemeinsam mit dem Kind, während die Mutter einige Zeit später in den Zuständigkeitsbereich des Klägers zog. Im Folgenden entzog das Familiengericht dem Vater das Sorgerecht, woraufhin das Jugendamt der Beklagten das Kind in Obhut nahm und Jugendhilfeleistungen in Form von Heimerziehung erbrachte.
Der Kläger, in dessen Bereich die nunmehr allein sorgeberechtigte Mutter ihren gewöhnlichen Aufenthalt hatte, übernahm den Hilfefall gemäß § 86 Absatz 2 Satz 1 SGB VIII in seine Zuständigkeit. Als das Familiengericht der Mutter anschließend ebenfalls das Sorgerecht entzogen hatte, vertrat der Kläger gegenüber der Beklagten erfolglos die Auffassung, dass die Beklagte nunmehr gemäß § 86 Absatz 3 in Verbindung mit Absatz 2 Satz 2 SGB VIII wieder zuständig geworden sei.
Das Verwaltungsgericht Minden hat die Auffassung des Klägers bestätigt. Die hiergegen von der Beklagten eingelegte Sprungrevision vor dem Bundesverwaltungsgericht blieb ohne Erfolg.
Nach Auffassung des Bundesverwaltungsgerichts ist in Fällen, in denen die Elternteile bereits bei Beginn und während einer Jugendhilfemaßnahme verschiedene gewöhnliche Aufenthalte haben und auch der zweite Elternteil die Personensorge für das Kind verliert, § 86 Absatz 3 in Verbindung mit Absatz 2 Satz 2 SGB VIII anwendbar. Die örtliche Zuständigkeit richte sich damit nach dem gewöhnlichen Aufenthalt des Elternteils, bei dem das Kind vor Beginn der Leistung zuletzt seinen gewöhnlichen Aufenthalt hatte.
Nicht anwendbar sei dagegen § 86 Absatz 5 Satz 2 Alternative 2 SGB VIII, da diese Vorschrift nur Fälle betreffe, in denen die Eltern nach Beginn der Jugendhilfeleistung verschiedene gewöhnliche Aufenthalte begründen.
Das Bundesverwaltungsgericht hat die vorgenannte Rechtsfrage in einem ähnlich gelagerten Verfahren des Verwaltungsgerichts München ebenso entschieden, jedoch die Entscheidung der Vorinstanz aufgehoben und die Sache zur weiteren Tatsachenaufklärung an diese zurückverwiesen.
BVerwG 5 C 3.23 - Urteil vom 25. April 2024
Rechtmäßigkeit der Inobhutnahme bei ausgebliebener Anrufung des Familiengerichts
Oberverwaltungsgericht Nordrhein-Westfalen, Beschluss vom 22. März 2024, Az. 12 A 168/23
Der Kläger erhob vor dem Verwaltungsgericht Klage auf Feststellung der Rechtswidrigkeit der Inobhutnahme seiner Kinder sowie Gewährung vollständiger Einsicht in die Akten des Jugendamtes.
Nachdem das Jugendamt eine anonyme Meldung einer Kindeswohlgefährdung erhalten hatte, befragten die Fachkräfte die beiden Kinder des Klägers getrennt voneinander zu den gemeldeten Vorwürfen, die von den Kindern weitestgehend bestätigt wurden. Die Kinder berichteten über regelmäßige Schläge im Elternhaus insbesondere seitens der Mutter, der Ehefrau des Klägers. Das am gleichen Tag noch beabsichtigte Klärungsgespräch mit den Eltern kam aufgrund derer agressiven Reaktion nicht zustande. Nach Abbruch des Klärungsgespräches nahm das Jugendamt die Kinder in Obhut ohne das Familiengericht vorher einzuschalten. Die Kinder befanden sich zu diesem Zeitpunkt noch in einer Drittunterbringung. Gegen die Inobhutnahme wandte sich der Kläger mit der Begründung, dass eine Inobhutnahme aus der Schule/Kindergarten unzulässig sei, da dort das Kindeswohl grundsätzlich gesichert wäre. Bereits zum Zeitpunkt der Befragung der Kinder am Vormittag hätte eine Einschaltung des Familiengerichts erfolgen müssen. Zudem habe keine dringende Gefahr bestanden, da die gemeldete Gewalteinwirkung seitens der Mutter erfolgt sei und die Kinder somit ihm hätten unterstellt werden können. Seinen Antrag auf vollständige Akteneinsicht stützte er auf die Begründung, dass ihm andernfalls eine effektive Rechtsverteidung nicht möglich sei. Dies beträfe auch die Angaben zur anonymen Meldung.
Das Verwaltungsgericht wies die Klage ab, der hiergegen eingelegte Antrag des Klägers auf Zulassung der Berufung hatte vor dem Oberverwaltungsgericht keinen Erfolg.
Zurecht sei das Jugendamt zum Zeitpunkt der Entscheidung im Rahmen der prognostischen ex-ante-Betrachtung von einer Gefahr ausgegangen, so das Oberverwaltungsgericht. Eine Gefahr für das Kindeswohl liege vor, wenn eine Gefahr für die Kindesentwicklung abzusehen ist, die bei ihrer Fortdauer eine erhebliche Schädigung des körperlichen, geistigen oder seelischen Wohls des Kindes mit ziemlicher Sicherheit voraussehen lässt. Die Gefahr müsse nicht unmittelbar bevorstehen. Durch die bevorstehende Abholung der Kinder aus der Drittunterbringung seitens der Eltern bestand die Gefahrenlage jedoch für die Zeit unter der elterlichen Aufsicht nach dem Schul- beziehungsweise Kindergartenaufenthalt. Der Kläger sei ferner nach übereinstimmender Schilderung aufgrund seiner Berufstätigkeit überwiegend abwesend und habe nicht dargelegt, wie er eine Gewaltanwendung seiner Frau gegenüber den Kindern hätte verhindern können.
Entgegen der Auffassung des Klägers war eine Entscheidung des Familiengerichts auch nicht vorher einzuholen oder abzuwarten. Aus der ex-ante-Sicht der Behörde stellte gerade das Belassen der Kinder bei den Eltern die dringende Gefahr dar, sodass die Kinder auch nicht vorläufig, bis zum Abschluss eines familiengerichtlichen Verfahrens, bei den Eltern belassen werden konnten. Entscheidend kam es daher nicht darauf an, ob das Familiengericht noch hätte angerufen werden können, sondern darauf, ob eine Entscheidung des Familiengerichts rechtzeitig ergangen wäre, um die Gefahr abzuwenden.
Auch die Entscheidung des Verwaltungsgerichts, dem Kläger kein vollständiges Akteneinsichtsrecht zu gewähren, war nicht zu beanstanden. Zurecht habe das Verwaltungsgericht entschieden, dass einem etwaigen Anspruch des Klägers § 25 Absatz 3 SGB X entgegen stünde. Insoweit greife auch der lediglich pauschal vorgetragene Vorwurf der Verletzung seines Anspruches auf rechtliches Gehör nicht durch.
Oberverwaltungsgericht NRW, 12 A 168/23
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