Anwendbarkeit des § 89b SGB VIII bei unbegleiteten minderjährigen Ausländern
Verwaltungsgerichtshof Baden-Württemberg, Urteil vom 23. Februar 2024
Az. 12 S 775/22
Der aus Gambia stammende Jugendliche wurde nach seiner unbegleiteten Einreise im Dezember 2015 vorläufig in Obhut genommen und anschließend dem Jugendamt des Beklagten zur Inobhutnahme nach § 42 SGB VIII zugewiesen. Nachdem der Jugendliche im August 2016 aus der Jugendhilfeeinrichtung entwichen war, in der ihm im Anschluss an die Inobhutnahme Hilfe zur Erziehung gewährt wurde, beendete der Beklagte die Gewährung von Jugendhilfe mittels Bescheid.
Im Oktober 2016 meldete sich der Jugendliche unter Angabe anderer persönlicher Daten in einer Notaufnahmestelle im Bereich des Klägers, der ihn dann zunächst vorläufig und anschließend nach § 42 SGB VIII in Obhut nahm.
Nachdem bekannt wurde, dass der Jugendliche bereits dem Beklagten zugewiesen worden war, sollte zunächst eine Rückführung des Jugendlichen erfolgen, die jedoch letztendlich nicht stattfand. Im Folgenden erklärte der Kläger gegenüber dem Beklagten, die Zuständigkeit rückwirkend gemäß § 88a Absatz 2 Satz 3 SGB VIII zu übernehmen und forderte den Beklagten zur Kostenerstattung nach § 89b SGB VIII für die Zeit bis zur Fallübernahme auf.
Aufgrund der Ablehnung der Kostenerstattung durch den Beklagten erhob der Kläger Klage vor dem Verwaltungsgericht Sigmaringen, die jedoch abgewiesen wurde. Das Urteil des Verwaltungsgerichts wurde daraufhin im Wege der Berufung vor dem Verwaltungsgerichtshof Baden-Württemberg angefochten.
Die Berufung ist unbegründet. Nach Ansicht des Verwaltungsgerichtshofes steht dem Kläger weder aus § 89b Absatz 1 SGB VIII noch aus § 105 SGB X ein Kostenerstattungsanspruch gegen den Beklagten zu.
Für unbegleitete minderjährige Ausländer seien im Rahmen der Kostenerstattung nach § 89b SGB VIII die allgemeinen Bestimmungen des § 86 Absatz 1 bis 5 SGB VIII, soweit sie auf den gewöhnlichen Aufenthalt abstellen, entsprechend anzuwenden. Dass sich die örtliche Zuständigkeit bei unbegleiteten minderjährigen Ausländern gemäß § 88a SGB VIII nach dem tatsächlichen Aufenthalt oder nach der Zuweisungsentscheidung richtet, schließe nicht aus, die Bestimmungen des § 86 Absatz 1 bis 5 SGB VIII entsprechend anzuwenden, da dies zu einer rein fiktiven Zuständigkeitsprüfung führe.
Da der Jugendliche vor Beginn der Inobhutnahme durch den Beklagten keinen gewöhnlichen Aufenthalt im Bereich des Beklagten begründet habe, sei eine Kostenerstattung gemäß § 89b Absatz 1 in Verbindung mit § 86 Absatz 4 SGB VIII ausgeschlossen.
Auch ein Anspruch nach § 105 SGB X bestehe nicht, da der Beklagte im streitgegenständlichen Zeitraum keine Kenntnis darüber hatte, wo der Jugendliche sich aufhielt und ob er Hilfe benötigte.
Urteil des Verwaltungsgerichtshofs Baden-Württemberg
Anspruch von Geschwisterkindern auf den Nachweis eines Betreuungsplatzes
Verwaltungsgerichtshof Baden-Württemberg, Beschluss vom 8. September 2023
Az. 12 S 790/23
Im vorliegenden Verfahren begehrten die Antragsteller, Eltern von zwei Kindern (Jahrgang 2020 und 2022) einen Kitaplatz für beide Kinder in derselben Tageseinrichtung. Antragsgegner ist der Träger der öffentlichen Jugendhilfe.
Das Verwaltungsgericht Sigmaringen entschied mit Beschluss vom 19. April 2023, dass einem der beiden Geschwisterkinder ein Platz in einer Tageseinrichtung mit einer Betreuungszeit von 8 bis 13 Uhr zugewiesen werden müsse, und dem anderen Kind ein Platz unter gleichen Bedingungen in einer Tageseinrichtung oder Kindertagespflege. Zudem erging die Anordnung, dass die Tageeinrichtung bzw. Kindertagespflege bei Benutzung öffentlicher Verkehrsmittel von der Wohnung der Antragsteller aus Gründen der Zumutbarkeit in maximal 30 Minuten erreichbar sein müsse.
Gegen diesen Beschluss erhoben sowohl die beiden Antragsteller als auch der Antragsgegner Beschwerden. Der Verwaltungsgerichtshof Baden-Württemberg hat den Beschluss des Verwaltungsgerichts daraufhin abgeändert.
Die Beschwerde der Antragsteller wurde abgewiesen, während der Beschwerde des Antraggegners teilweise stattgegeben wurde.
So sei der Antragsgegner, zumindest nicht in der vom Verwaltungsgericht Sigmaringen beschlossenen Weise, verpflichtet den beiden Kindern einen derartigen Betreuungsplatz zuzuweisen, da ein zumutbarer Betreuungsplatz während des laufenden Verwaltungsgerichtsverfahren angeboten wurde.
Der Nachweis eines Angebots zur Förderung in einer Tageseinrichtung bzw. zur frühkindlichen Förderung in einer Tageseinrichtung oder in Kindertagespflege genüge den jeweiligen Anforderungen, wenn das Angebot dem konkret-individuellen Bedarf des anspruchsberechtigten Kindes und seiner Erziehungsberechtigten in zeitlicher und insbesondere auch in räumlicher Hinsicht entspreche. In seiner Entscheidung lehnt der Verwaltungsgerichtshof die vom Verwaltungsgericht Sigmaringen, zur Bestimmung der räumlich und zeitlichen Zumutbarkeit, verwendete, pauschale 30-Minuten Grenze ab. Vielmehr sei die Zumutbarkeit der Entfernung zwischen Wohnort und Betreuungseinrichtung von den konkreten Umständen des Einzelfalls abhängig. Außerdem sei zum Zeitpunkt der Entscheidung des Verwaltungsgerichts mangels Platzzuweisung die erforderliche individuelle Prüfung noch gar nicht möglich gewesen.
Zum Zeitpunkt der Entscheidung des Verwaltungsgerichtshofs lagen hingegen Platzangebote durch den Antragsgegner vor, welche nach Auffassung des Gerichts nach konkret-individueller Betrachtungsweise räumlich und zeitlich zumutbar sind. Auf eine, mit dem ÖPNV, 15 bis 20-minütige Überschreitung der 30-Minuten-Grenze käme es vorliegend nicht an, da es zumutbar sei, die Strecke innerhalb von 11 Minuten mit dem eigenen PKW beziehungsweise 20 bis 25 Minuten mit dem Fahrrad zurückzulegen. Auch von den Eltern entgegengebrachte Einwände, wie ein teils defekter PKW oder die gelegentliche Unmöglichkeit der Fahrradnutzung wegen Extremwetterlagen und notwendigen Reparaturen vermögen das Gericht nicht zu überzeugen. Sie seien aufgrund ihrer Seltenheit kein Anhaltspunkt für eine Unzumutbarkeit.
Darüber hinaus hält der Verwaltungsgerichtshof eine Unterbringung der Geschwisterkinder in zwei verschiedenen Tageseinrichtungen, welche in zwei verschiedenen Richtungen gelegen sind, ebenfalls für angemessen. Schließlich bestehe die Möglichkeit das Bringen und Holen unter den Eltern aufzuteilen. Die hierdurch entstehenden Wegzeiten seien jedoch in ausreichendem Maße bei der Einschätzung der Zumutbarkeit zu berücksichtigen. Selbst wenn das Bringen und Holen nicht aufgeteilt werden könne, hält das Gericht eine Fahrzeit mit dem Fahrrad von 40 bis 49 Minuten pro Richtung im vorliegenden Fall unter den gegebenen Umständen immer noch für angemessen. Das Gericht verweist insoweit auf eine Entscheidung zu einer nur vorübergehenden Überschreitung.
Zusammenfassend stellt das Gericht fest, dass der Anspruch aus § 24 Absatz 3, Satz 1 oder § 24 Absatz 2, Satz 1 SGB VIII Kindern demnach keinen Anspruch auf einen bestimmten Platz in einer bestimmten Einrichtung sichere. Falls ein bedarfsgerechter und belegbarer Platz in der entsprechenden Einrichtung vorhanden sei und keine atypischen Umstände vorlägen, könne sich ein solcher Anspruch des Geschwisterkindes aufgrund des Wunsch- und Wahlrechtes nach § 5 SGB VIII aber „verdichten“.
Die Nichtannahme eines konkreten, von den Eltern unberechtigterweise für unzumutbar gehaltenen Angebots eines Betreuungsplatzes, der anschließend anderweitig vergeben wird, begründe noch keine Verwirkung des Anspruchs. Vielmehr müssten die Eltern erkennbar machen, dass sie auf den Anspruch auf frühkindliche Förderung insgesamt verzichten.
Beschluss des Verwaltungsgerichtshofs Baden-Württemberg
Akteneinsicht in Beistandschaftsakten
Verwaltungsgericht München, Beschluss vom 14. Februar 2024
Az. M 18 E 23.5867
Der Antragsteller ist Vater einer minderjährigen Tochter, das Sorgerecht steht ausschließlich der Mutter des Kindes zu. Der Antragsgegner, das örtliche Jugendamt, hatte wohl als Beistand am 27. Juni 2023 einen Antrag beim Amtsgericht – Familiengericht gegen den Antragsteller auf Unterhalt gestellt. Im laufenden Unterhaltsverfahren wird die Tochter durch den Antragsgegner als Beistand vertreten. Der Antragsteller beantragte beim Antragsgegner zeitnah Akteneinsicht, welche mit der Begründung abgelehnt wurde, dass dem Antragsteller als Unterhaltsverpflichteten kein Anspruch auf Akteneinsicht nach § 25 SGB X zustehe, da die Beistandschaft kein Sozialverwaltungsverfahren nach § 8 SGB X darstelle. Hiergegen stellt der Antragsteller einen Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung.
Der zulässige Antrag bleibt in der Sache ohne Erfolg.
Der Antragsteller begründet die Dringlichkeit seines Antrags auf Einsicht in die Beistandschaftsakten des Antragsgegners damit, dass er diese in Vorbereitung des beim örtlich zuständigen Familiengericht geführten Kindesunterhaltsverfahrens seines Kindes benötige, um die Wirksamkeit der Beistandschaft überprüfen zu können. Andernfalls sei zu befürchten, dass das Familiengericht über einen unzulässigen Antrag entscheide. Dieser Argumentation folgt das Verwaltungsgericht München nicht.
Sofern der Beistand, wie offenbar im hier laufenden Unterhaltsverfahren, das Kind vor Gericht vertritt, prüfe dieses gemäß § 9 Absatz 5 FamFG in Verbindung mit § 56 Zivilprozessordnung die ordnungsgemäße Vertretung des Kindes von Amts wegen oder auf Antrag. Daher fehle die von der Antragspartei behauptete Gefahr einer auf falschen Prozessvoraussetzungen gründenden Entscheidung im Unterhaltsverfahren und damit insoweit auch das Bedürfnis für den vorliegenden Antrag. Zudem trete die Beistandschaft gemäß § 1714 BGB kraft Gesetzes in dem Moment ein, in dem der Antrag dem Jugendamt zugehe, so dass das Jugendamt gar keinen Entscheidungsspielraum habe, welcher einer Überprüfung hinsichtlich der Objektivität des Vorgangs unterliege.
Im Übrigen führt das Gericht aus, dass der Anspruch auf Akteneinsicht nach § 25 SGB X beziehungsweise § 29 VwVfG dem Antragsteller auch in der Sache nicht zu dem begehrten Erfolg verhelfen dürfte. Denn der Anspruch des Unterhaltspflichtigen auf Einsicht in die Beistandschaftsakten richte sich nach bürgerlichem Recht (§ 810 BGB) und beinhalte im Übrigen nur einzelne, konkret benannte Dokumente, nicht jedoch eine umfassende Einsicht. Ein öffentlich-rechtliches Verhältnis stehe hingegen nicht zur Rede, da die Beistandschaftsakten das Verhältnis zwischen dem durch den Beistand vertretenen Kind und dem Kläger betreffen, sich mithin auf das unterhaltsrechtliche Verhältnis beziehen.
Beschluss des Verwaltungsgerichts München
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