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Pressemeldung

"Die Gesellschaft ist es nicht gewohnt, Menschen mit Behinderungen mitzudenken"

Interview mit Eva-Maria Thoms, Vorsitzende des Elternvereins mittendrin e.V., über die geringe Berücksichtigung der Rechte von Kindern mit Behinderungen in der Corona-Pandemie.

Die Kinderkommission des Deutschen Bundestags hat kürzlich betont, dass politische Entscheidungen über die Maßnahmen zur Bekämpfung der Corona-Pandemie die Kinderrechtsperspektive stärker berücksichtigen müssen. Wie schätzen Sie die Umsetzung der Maßnahmen im Hinblick auf die Rechte von Kindern und Jugendlichen mit Behinderung ein?

Es ist in diesem Jahr durchgängig sehr mühsam gewesen, auf die Berücksichtigung der Rechte von Kindern und Jugendlichen mit Behinderung zu dringen. Wir haben immer wieder erlebt, dass sie etwa bei Pandemie-Regelungen im Schulbereich zunächst nicht mitgedacht worden sind oder, oft zu ihrem Nachteil, anders behandelt worden sind. Ihr Recht auf Bildung wurde noch stärker den Corona-Schutzmaßnahmen untergeordnet. Die Wiederöffnung bestimmter Förderschulen wurde aufgeschoben, ein Distanzunterricht für Schüler*innen mit Behinderung blieb vielerorts weit hinter der Entwicklung für Schüler*innen ohne Behinderung zurück. Oft haben wir die pauschale Begründung gehört, Kinder mit bestimmten Behinderungen könne man auf Distanz nicht unterrichten. Ein Einsatz von Schulbegleitung im Distanzunterricht musste immer wieder im Einzelfall durchgekämpft werden. Das umfangreiche Unterstützungssystem von Schule, Eingliederungshilfe, Pflege, Therapie und Freizeitangeboten ist zeitweise komplett zusammengebrochen und wir haben als Gesellschaft keinen Weg gefunden, dies aufzufangen.

Die Maßnahmen zur Bekämpfung der Corona-Pandemie schränken Kinder und Jugendliche in ihren Grund- und Menschenrechten zum Teil stark ein, dies kann insbesondere Folgen für Menschen in benachteiligten oder vulnerablen Lebenslagen mit sich bringen. Wie schätzen Sie mögliche Auswirkungen für Kinder und Jugendliche mit Behinderung ein?

Die Situation in der Pandemie ist für alle Kinder und Jugendlichen sehr belastend. Viele Kinder mit Behinderung haben oft geringere Ressourcen, dies zu kompensieren. Wenn die Schule der einzige Ort der sozialen Teilhabe ist, weil es keine Freunde am Wohnort gibt und keine eingeübte Kultur der digitalen Peerkommunikation, dann bleibt im Lockdown nichts. Zudem leiden viele unter dem Verlust von haltgebenden Routinen oder es fällt ihnen schwer, die gesellschaftliche Unruhe für sich einzuordnen. Viele Eltern berichten uns von Entwicklungsrückschritten und psychischen und Verhaltensproblemen ihrer behinderten Kinder. Ob Kinder mit Behinderung in dieser vollkommen isolierten Situation Opfer von Gewalt geworden sind, wissen wir nicht. Wir wissen aber, dass Familien durch den Wegfall sämtlicher Unterstützungssysteme über Monate hinweg weit über die Grenzen des eigentlich Möglichen belastet waren.

In der UN-Kinderrechtskonvention werden auch Beteiligungs- und Förderrechte formuliert. Artikel 31 schreibt das Recht eines jeden Kindes und Jugendlichen auf Spiel, Freizeit, Ruhe und Erholung fest. Durch Kontaktverbote, Schließungen diverser Einrichtungen und Vereinsangebote können Kinder und Jugendliche ihre Rechte nur sehr eingeschränkt ausüben. Wie wirkt sich diese Situation insbesondere für Kinder und Jugendliche mit Behinderung aus?

Viele Freizeitangebote für Kinder und Jugendliche mit Behinderung finden bis heute noch nicht wieder statt. Selbst die seit dem Sommer 2020 eigens aufgelegten Ferienprogramme des Schulministeriums konnten an vielen Förderschulen nicht umgesetzt werden. Eine Chance auf Teilhabe im Freizeitbereich haben Kinder und Jugendliche mit Behinderung zurzeit nur, wenn sie in den sozialräumlichen Strukturen verankert sind und an den jetzt dort wieder beginnenden Aktivitäten etwa in der Jugendarbeit oder im Sport teilnehmen können.

Die UN-Kinderrechtskonvention schreibt in Artikel 2 ein Diskriminierungsverbot fest, Demnach müsste dieses Gebot bei der Ausgestaltung jeder Maßnahme zur Eindämmung der Pandemie mitgedacht werden. Wie schätzen Sie diese Umsetzung ein?

Wir haben im Verlauf der Pandemie sehr deutlich gesehen, dass wir es als Gesellschaft nicht gewohnt sind, Menschen mit Behinderung mitzudenken. Wir machen unsere Regeln für die Mehrheit. Die Unterstützung von Menschen mit Behinderung haben wir auf getrennte Institutionen delegiert und verlassen uns darauf, dass die es schon richten. Das ist nicht inklusiv und jetzt haben wir gesehen, dass es auch nicht besonders krisensicher ist. Förderschulen standen zum Beispiel vor großen Problemen, weil dort besonderes viele durch das Virus vulnerable Schüler*innen zusammenkommen und gleichzeitig viele Schüler*innen behinderungsbedingt nicht alle Corona-Regeln einhalten können. Und diese Schüler*innen müssen dann auch noch gemeinsam über weite Strecken in Kleinbussen zur Schule fahren.

Welche Bedarfe von Kindern und Jugendlichen mit Behinderung sollten bei der weiteren Bekämpfung der Corona-Pandemie aus Ihrer Sicht zukünftig stärker aufgegriffen werden? Wie müsste eine Strategie aussehen, die die Kinderrechtsperspektive adäquat mit aufgreift?

Wir müssten andere Lösungen finden, als die Orte der Teilhabe – von der Schule bis zu Freizeit und Sport – je nach Infektionslage entweder im unveränderten Regelbetrieb aufzumachen oder zu schließen. Um Kindern ein Mindestmaß an Teilhabe bei möglichst hohem Infektionsschutz zu ermöglichen, bräuchten wir Strukturen von kleinen und kontinuierlich festen Gruppen, natürlich unter Anwendung notwendiger Schutzmaßnahmen. Der Preis wäre, dass wir uns der Pandemie anpassen und einige Routinen aussetzen, besonders im Schulbereich. Wir sollten mehr auf Bildung und Teilhabe schauen als auf Stundentafel und Prüfungsroutine.

Eva-Maria Thoms ist erste Vorsitzende von mittendrin e.V., eines Vereins von Eltern behinderter Kinder. Dort ist sie zuständig für politische Lobby-, Netzwerk- und Medienarbeit. Die Erfahrungen rund um die Einschulung ihrer behinderten Tochter bewegten die Diplom-Volkswirtin und Journalistin zur Gründung des Vereins im Jahr 2006. Seitdem engagiert sie sich für die Umsetzung inklusiver Bildung in Deutschland. Sie arbeitet in politischen Gremien mit, leistet Netzwerk- und strategische Medienarbeit und entwickelt Konzepte für Inklusion. Thoms wurde jüngst als Pool-Mitglied in den Landesbehindertenrat (LBR) für den LVR-Beirat für Inklusion und Menschenrechte benannt.

Das Interview wurde von Christina Muscutt durchgeführt und von Natalie Deissler-Hesse mit vorbereitet und redaktionell aufbereitet. Beide sind in der LVR-Koordinationsstelle Kinderarmut beim Landesjugendamt Rheinland tätig.