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Pressemeldung

„Wir wollen nicht das Schulsystem, sondern die Kinder entlasten“

Mo.Ki „inklusiv“, ein Kooperations-Modellprojekt zwischen Schule und Jugendhilfe, will mithilfe eines multiprofessionellen und systemübergreifenden Inklusionskonzeptes Kinder und Jugendliche mit und ohne Förderbedarf unbürokratisch unterstützen. Die Fachkräfte von Mo.Ki „inklusiv“ zeigen eindrucksvoll, warum Schulerfolg nicht gleichzusetzen ist mit Leistungserfolg und wie es gelingt, Kinder und Jugendliche nicht nur in ihrer Rolle als Schüler*innen zu stärken.

Von Natalie Deissler-Hesse, LVR-Landesjugendamt

Die Pausenklingel war unangenehm schrill und laut. Und dennoch hatten alle Schüler*innen der Klassen 1a und 1b an diesem Morgen den Gong zum Unterrichtsbeginn überhört. Über die legendäre Schneeballschlacht in der großen Pause an einem eisigen Januartag in den 1970er Jahren sprechen die inzwischen erwachsenen, früheren Schulfreund*innen noch bei jedem Klassentreffen.

Wenn Matthias, heute 50 Jahre alt, an seine Schulzeit zurückdenkt, fallen ihm noch viele andere bewegende Situationen, aber auch prägende Menschen ein: Die freundliche Vertretungslehrerin, die in der Pause immer ein offenes Ohr für die Sorgen und Nöte der Kinder hatte, oder der drei Tage andauernde, heftige Streit mit seinem besten Freund über eine Spielregel. Natürlich hat Matthias viel gelernt in der Schule, doch seine Kindheitserfahrungen spielten sich auch zwischen, vor und nach den Unterrichtsstunden ab.

Kindheit und Jugend findet überwiegend in der Schule statt

Durch den Offenen Ganztag verbringen heutzutage viele Schüler*innen einen Großteil ihres Tages an der Schule. Viele strukturgebende Gemeinschaftsrituale im Tagesablauf eines Kindes wie lernen, essen und spielen finden dort statt. Damit wird Schule längst nicht mehr nur als Lern- sondern vor allem als Lebensort der Kinder und Jugendlichen wahrgenommen. „Der Lebensort Schule wird mit dem geplanten Rechtsanspruch auf Ganztag für Schüler*innen immer wichtiger,“ bekräftigt Hilde Benninghoff-Giese, Projektkoordinatorin von Mo.Ki „inklusiv“ und Abteilungsleiterin bei der Bergischen Diakonie.

Der in Fachkreisen bekannte kommunale Präventionsansatz „Mo.Ki – Monheim für Kinder“ leistet seit 2002 gezielte Präventionsarbeit für Kinder und Familien am Lebensort Schule mit besonderem Augenmerk auf die Übergänge der Kinder von der Kita zur Grundschule und von dieser zur weiterführenden Schule. Mit dem fortschreitenden Erfolg und Ausbau der Präventionskette gehören heute Schulsozialarbeit und die Schulpsychologie zum regulären Angebot an allen allgemeinen Schulen in Monheim. Mo.Ki „inklusiv“, ein Gemeinschaftsprojekt der Stadt Monheim und der Bergischen Diakonie, startete im August 2020 zunächst für drei Jahre an einer Grundschule und an einer Gesamtschule in den Jahrgängen 5 und 6. Es wird von der Stiftung für Wohlfahrtspflege NRW gefördert und geht mit dem inklusiven Ansatz einen großen Schritt weiter in Richtung Teilhabe von Kindern mit Förderbedarf und Behinderungen.

Antragsfreie Schulbegleitung – eine Entlastung

Ein besonderes Augenmerk von Mo.Ki „inklusiv“ liegt auf Kindern mit sozial-emotionalen Auffälligkeiten bzw. in psychosozialen Risikolagen. Sie sollen umfassende Unterstützungsleistungen erhalten, die sich an ihren individuellen Bedarfen orientieren, beispielsweise durch tägliche Schulbegleitung, wöchentliche Einzelkontakte, Gruppenangebote oder andere entlastende Maßnahmen. Der niedrigschwellige, präventive Ansatz von Mo.Ki „inklusiv“ setzt mit der Förderung frühzeitig an, bevor massive Entwicklungsstörungen zu Tage treten können. „Das Kind hat es nicht mehr nötig, immer auffälliger zu werden, um dann womöglich eine Diagnose und Therapie auszulösen“, beschreibt Hilde Benninghoff-Giese den Präventionsgedanken.

Mit dem präventiven Ansatz von Mo.Ki „inklusiv“ entfallen für die Familien die oftmals kräftezehrenden Diagnoseverfahren zur Feststellung von Förderbedarf. Dass Kinder so unkompliziert eine Hilfestellung erhalten, nehmen ihre Eltern ebenso dankbar wie begeistert an. Sie sind froh, die Rolle als Bittsteller ablegen zu können und die zeitintensiven Schritte Antrag, Diagnose, Therapie nicht durchlaufen zu müssen. „Warum ist da vorher noch niemand drauf gekommen?“ fragte jüngst eine Mutter die Mo.Ki-Fachkräfte verwundert.

Multiprofessionelle Teams – ein Zugewinn

Bürokratische Hürden wie das Antragswesen zur Entlastung des Kindes und seiner Familie aufzuweichen, gelingt auch durch multiprofessionelle Zusammenarbeit. Diese ist insbesondere zwischen Schule und Jugendhilfe ein weiterer zentraler Baustein des Konzeptes von Mo.Ki „inklusiv“. Ein Beratungsteam – je nach Schulform und Einzelfall – bestehend aus Vertreter*innen der Lehrerschaft, der Offenen Ganztagsschule (OGS), aus Sonder- und Sozialpädagog*innen, der Schulsozialarbeit sowie einer Mo.Ki-Fachkraft trifft sich regelmäßig zu Beratungssitzungen. Hier kommen unterschiedliche Perspektiven auf die Schüler*innen zusammen, die dabei helfen, eine gemeinsame, ganzheitliche Betrachtungsweise zu erarbeiten. Anders als die Fokussierung der Lehrkräfte auf die Leistungen des Kindes, konzentriert sich der gemeinsame Blick auf dessen Potenziale, Stärken und Ressourcen. „Die Frage hinter unserer Arbeit lautet immer: Welche Stärken und Ressourcen bringt das Kind mit?“, erläutert Sandra Stollenwerk-Blaschek, Fachkraft im Team der Bergischen Diakonie an der Peter-Ustinov-Gesamtschule. Tims Lese-Rechtsschreib-Schwäche steht nun nicht mehr im Vordergrund, sondern seine immense Leistungsbereitschaft und Motivation, die er nach einer passgenauen Förderung durch die Fachkräfte an den Tag legt. Auch einschneidende Erlebnisse, die ein Kind beschäftigen und sein Lernverhalten beeinflussen, kommen in den Beratungssitzungen auf den Tisch. Insbesondere für Lehrer*innen sind Informationen über die Lebenswelt des Kindes ein Gewinn. Lauras andauernde Konzentrationsschwäche erscheint nach dem Wissen um ihre tiefe Trauer nach dem Tod der geliebten Oma in einem anderen Licht.

Nicht nur die Kinder, auch die verschiedenen Berufsgruppen und ihre Systeme profitieren von offengelegten Schnittstellen. „Das Einzelkämpfertum mündet hier in den Teamgedanken“, fasst Sandra Stollenwerk-Blaschek die multiprofessionelle Teamarbeit zusammen. Durch die Perspektiven unterschiedlicher Professionen entstehe eine „gemeinsame Haltung dem Kind gegenüber“.

In die Unterstützungsangebote und Beratungen fließt auch die häusliche Lebenswelt der Kinder ein. Eltern leisten mit ihren Einschätzungen und Erfahrungen deshalb einen wichtigen Beitrag zur multiprofessionellen Zusammenarbeit. Mo.Ki „inklusiv“ arbeitet mit den Eltern auf der Ebene eines Elternmentorings zusammen. Wichtig ist den Fachkräften dabei der Kontakt auf Augenhöhe. Mit einer lehrmeisterhaften Beratung „von oben herab“ wird den Eltern nicht geholfen. Vielmehr steht die Frage im Raum, was Eltern – die ihr Kind nicht nur als Schulkind sehen und erfahren – zur Unterstützung ihres Kindes beitragen können.

Welche positiven Effekte Mo.Ki „inklusiv“ im Einzelnen auf Kinder, deren Eltern sowie auf die Fachkräfte hat und welche Fördermaßnahmen verbessert werden können, wird von der Universität Köln prozessbegleitend evaluiert.

Gelebtes Recht auf Teilhabe von Kindern mit Behinderungen – auch unter Pandemiebedingungen

Mit dem ressourcenorientierten Blick auf das Kind und einer antragsfreien Jugendhilfe leistet Mo.Ki „inklusiv“ einen wichtigen Beitrag, das in der Kinderrechtskonvention festgeschriebene Recht auf ein erfülltes und menschenwürdiges Leben für alle Kinder zu wahren. Umfangreiche, zeitraubende Antragsverfahren fallen weg und erleichtern einen diskriminierungsfreien, niedrigschwelligen Zugang zur Bildung und gleichberechtigter Teilhabe. Im Ergebnis steht die Gleichbehandlung und gleiche Förderung aller Kinder im Schullalltag trotz besonderer Bedürfnisse.

Eine Herausforderung für gleichberechtigte Teilhabe waren die Corona-Pandemie und die damit einhergehenden Kontaktbeschränkungen. Dennoch gelang es den Fachkräften, einen Großteil der Kinder im Blick zu behalten. Der durch den Distanzunterricht abbrechende Kontakt konnte zumeist durch die Notbetreuung und verstärkte Kontaktaufnahme seitens der Fachkräfte, u.a. durch Videotelefonate, Briefe oder Abholung der Kinder wiederhergestellt werden.

Wirrwarr der Zuständigkeiten wird entzerrt und an der Schule gebündelt

Lernbegleiterin in der Schule, Termin beim Logopäden, medizinische Begutachtung im Gesundheitsamt – auf Kinder mit Förderbedarf wie Max wirken die vielen verschiedenen Zuständigkeiten und wechselnden Träger belastend. „Kinder registrieren, dass beispielsweise Inklusionsbegleiter die Schule wieder verlassen“, erläutert Sandra Stollenwerk-Blaschek. „Kinder wertschätzen verlässliche, vertraute Ansprechpersonen, die für ihre Bedarfe immer präsent und fest in das Schulsystem integriert sind.“

Eine zentrale Ansprechperson, bei der alle Fäden zusammenlaufen, ist eine im Rahmen von Mo.Ki „inklusiv“ neu geschaffene Profession. Sie hat die Aufgabe, die multiprofessionelle Zusammenarbeit, insbesondere zwischen Jugendhilfe und Schule, zu koordinieren, die Zusammenarbeit mit den Projektpartnern zu stärken und die antragsfreie Schulbegleitung zu koordinieren.

Schule mit gleichberechtigter Teilhabe: Grundstein des Lebens

Gemeinsam mit den Kindern und Jugendlichen mit und ohne sonderpädagogischen Förderbedarf gestaltet Mo.Ki „inklusiv“ die Schule als Erlebnisraum, in dem sie als Teil einer Gemeinschaft positive Erfahrungen sammeln können. „Wir geben den Kindern das Gefühl, wichtig zu sein,“ beschreibt Dorothe Schmitt, Fachkraft im Team der Bergischen Diakonie an der Grundschule am Lerchenweg die Hilfestellung der Mo.Ki „inklusiv“ Fachkräfte, „wir zaubern nicht, wir sind einfach präsent.“ Sie sei „oft erstaunt, wie schnell Hilfe ankommt“, ergänzt Sandra Stollenwerk-Blaschek. „Viele Kinder blühen regelrecht auf.“ Stehen die Ressourcen der Kinder und das Gemeinschaftsgefühl im Vordergrund, können Ausgrenzung und Stigmatisierungen aufgrund von Verhaltensauffälligkeiten oder Behinderungen gar nicht erst entstehen. Die gleichberechtigte Teilhabe stärkt die Kinder für ihr späteres Leben.

Wie wichtig es in der Schule war, nicht nur als Schüler, sondern auch als Kind im Kontext seiner Lebenswelt wahrgenommen zu werden, kann Matthias nur bestätigen. Schließlich hat er, damals auch ohne Offene Ganztagsschule, dort einen Großteil seiner Kindheit und Jugend verbracht. Der 50-jährige, bei dem in der Grundschule Legasthenie und Dyskalkulie diagnostiziert wurden, bedauert, seit vielen Jahren in einem „anspruchslosen Brot-und-Butter-Job gefangen“ zu sein. Was wäre gewesen, wenn seine Lehrer*innen statt seines „objektiven“ Wissenstands seine Lernmotivation benotet hätten? Wie hätten sich sein Leben und seine berufliche Laufbahn entwickelt, wenn er nicht auf Anraten der Lehrkräfte auf eine Förderschule gekommen und stattdessen bei seinen Klassenkamerad*innen geblieben wäre? Matthias weiß es nicht. Aber er ist sich sicher: Er hätte sich als einer von ihnen gefühlt.

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