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Pressemeldung

„Armutsprävention braucht Empathie für die Lebenswelt der Armut“

Christoph Gilles, Abteilungsleitung Jugendförderung und Koordinationsstelle Kinderarmut des LVR sowie Mitautor des AGJ-Positionspapiers, wirft in einem Interview Schlaglichter auf zentrale Inhalte der Stellungnahme.

Herr Gilles, das AGJ-Positionspapier benennt Armutssensibles Handeln als zentrale Anforderung an die Kinder- und Jugendhilfe. Was genau ist darunter zu verstehen?

Armutssensibilität ist der rote Faden des AGJ-Papiers. Fachkräfte oder Entscheider*innen in Verwaltung oder Politik sind nur dann in der Lage eine erfolgreiche Armutsprävention zu gestalten, wenn sie sich zumindest ansatzweise in die Lebenssituation, in den Alltag des "arm seins" hineinversetzen können. Die pädagogischen Fachkräfte oder Lehrer*innen, die Menschen im Jugendamt oder im Ausschuss kommen in der Regel aus bürgerlichen, finanziell gesicherten Milieus. Sie können deshalb nur schwer nachvollziehen, dass für eine arme Familie die 5 € für den Ausflug nächste Woche, die Einladung zum Kindergeburtstag, der langgehegte Wunsch nach den angesagten Sportschuhen oder der von der Schule vorgeschriebene Taschenrechner zum Problem wird. Auch was es heißt, sich der Armut zu schämen, diese möglichst unsichtbar zu machen und den Rucksack der Armutserfahrung auch im späteren Leben nur schwer abschütteln zu können, ist aus der Perspektive gesicherter Verhältnisse oftmals nicht leicht nachzuempfinden. Es braucht sehr viel Empathie und Bereitschaft, sich der Lebenswelt der Armut offen und interessiert zu nähern. Das ist nicht leicht. Dabei helfen insbesondere Fortbildungen und Berichte von Betroffenen, seien es O-Töne von Kindern- und Jugendlichen bei Feldanalysen oder Medienprojekten, seien es autobiografische Berichte und Texte aus der Retrospektive. Beides setzt die LVR-Koordinationsstelle Kinderarmut in ihrem Fortbildungsprogramm intensiv ein.

Neben dem Beitrag der einzelnen Handlungsfelder der Kinder- und Jugendhilfe im Kontext Armut werden auch Verbesserungspotenziale thematisiert. Welche Handlungsbedarfe sind aus Ihrer Sicht besonders hervorzuheben?

Ich sehe hier zwei zentrale Handlungsbedarfe:

  • Die Stimme der in Armut lebenden Kinder, Jugendlichen und deren Familien wird zu wenig gehört. Es geht um die Beteiligung und Repräsentanz der Betroffenen. Wir gestalten die Armutsprävention aus der bürgerlichen, gut versorgten Perspektive und dann passiert es schnell, dass am Bedarf der Betroffenen vorbeigeplant wird. Auch werden die Fachkräfte an der pädagogischen Basis zu selten einbezogen. Sie sind es, die tiefe Einblicke in den Alltag und die Lebenswelt der Kinder, Jugendlichen und Familien haben.
  • Nur mit einer gut ausgestatteten sozialen Infrastruktur in den Städten und Gemeinden und einem leichten Zugang für die Menschen in Armut kann erfolgreiche Armutsprävention und eine gleichberechtigte Teilhabe gelingen. Dafür braucht es wiederum klare und eindeutige Priorisierungen – im Jugendamt, bei den Trägern und bei der Politik!

Welche handlungsfeldübergreifenden Forderungen ergeben sich aus dem AGJ-Positionspapier?

NRW ist Vorreiter in Sachen Armutsprävention. MoKi Monheim, NeFF Dormagen, die LVR-Koordinationsstelle Kinderarmut und das Landesprogramm "Kein Kind zurück lassen", das jetzt "kinderstark" heißt, sind wichtige Schritte hin zu einer landesweiten Armutsprävention. Die Beratungsangebote und die Qualifizierungsprogramme des LVR-Landesjugendamtes unterstützen die örtliche Ebene dabei, integrierte Gesamtkonzepte der Armutsprävention zu entwickeln. Deren finanzielle Förderung durch das Land ist ein weiterer wichtiger Faktor für den Erfolg. Aber so lange diese Förderung als jährlich neu zu beantragende Projektförderung angelegt ist, können die Möglichkeiten in den Kommunen nur sehr bedingt ausgeschöpft werden – dies betrifft vor allem jene Kommunen, die finanziell weniger gut aufgestellt sind.

Alle politischen Ebenen sind gefordert: Zwar werden zunehmend die Armut und deren Folgen im politischen Diskurs betont, aber die letzte Konsequenz der Entscheidung für eine umfassende Armutsprävention fehlt. So geht die Schere zwischen arm und reich immer weiter auseinander. Es braucht auf allen politischen Ebenen den Willen und die Entscheidungskraft, konsequent zu handeln für die Menschen, die in Armut leben müssen. Das ist zugegebener Maßen sehr schwer im dauerhaften Krisenmodus und der Abwägung der vielen anderen Notwendigkeiten. Aber: die Zukunft der Kinder und Jugendlichen und deren gelingendes Aufwachsen ist auch die Zukunft dieser Gesellschaft!

E-Mail-Kontakt Christoph Gilles

Das Interview mit Herrn Gilles können Sie auch im aktuellen Jugendhilfereport ab Seite 50 lesen.