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Pressemeldung

LVR-Koordinationsstelle Kinderarmut etabliert Online-Dialogformat "Über Armut sprechen"

Mit dem neuen Online-Dialogformat „Über Armut sprechen“ will die LVR-Koordinationsstelle Kinderarmut Raum für einen offenen, praxisnahen Austausch schaffen. Bei der nunmehr siebten Veranstaltung wurde ein Themenwunsch der Fachkräfte aufgegriffen: „Mobbing von armutsbetroffenen Kindern und Jugendlichen“.

Von Natalie Deissler-Hesse, LVR-Landesjugendamt

"Henry trägt seit einer Woche dasselbe Shirt!!!", steht in Großbuchstaben und mit Dislike-Emojis im Klassenchat. Dass die finanziellen und persönlichen Ressourcen der Familie derzeit stark begrenzt sind und Kleidungsfragen die geringsten Sorgen der Familie sind, weiß keiner. Doch erfahren Fachkräfte überhaupt von Mobbing gegen Kinder und Jugendliche im physischen oder virtuellen Raum? Wenn ja, wie gehen sie damit um? Und welchen Zusammenhang gibt es zwischen Armut und Diskriminierung?

Fachkräfte äußerten den Bedarf, sich gemeinsam über diese und weitere Fragen, aber auch über Erlebnisse oder Erfahrungen im Kontext Kinder- und Jugendarmut auszutauschen. Zusammen mit der Chancenwerkstatt für Vielfalt und Teilhabe der Integrationsagentur der AWO Mittelrhein hat die LVR-Koordinationsstelle Kinderarmut daher ein Dialogformat ins Leben gerufen. In der anderthalb-stündigen, in regelmäßigem Rhythmus stattfindenden Veranstaltung werden konkrete Situationen und Fragestellungen aus der Praxis reflektiert, die als herausfordernd oder verunsichernd wahrgenommen werden. Im kollegialen, moderierten Austausch sammeln die Teilnehmenden Erkenntnisse für ihren Alltag und erarbeiten Lösungsansätze. Filme, Sensibilisierungsübungen, Inputs sowie eine digitale Pinnwand, auf der die Mitwirkenden sich vorstellen und wichtige Informationen ablegen können, liefern zusätzliche Impulse. "Bei dem Format 'Über Armut sprechen' geht es darum, mit der Praxis ins Gespräch zu kommen und den pädagogischen Alltag zu reflektieren", erläutert Mercedes Pascual Iglesias von der AWO Mittelrhein. Ziel der Veranstaltungsreihe sei es, Sensibilisierungsarbeit zu leisten, Barrieren abzubauen und einen Beitrag zu mehr Teilhabe zu leisten.

Fließende Übergänge zwischen Mobbing und Cybermobbing

Die jüngste Veranstaltung der Reihe „Über Armut sprechen“ beschäftigte sich mit Armut und Mobbing. Rund 80 Fachkräfte aus den Bereichen Kita, Frühe Hilfen, Erziehungsberatung, Familienbildung, Schulsozialarbeit und Inklusion tauschten sich im Februar online aus. Rund jede*r zweite hat Mobbing beruflich oder privat bereits erlebt. Cybermobbing, dessen Begrifflichkeit im deutschsprachigen Raum seit 2007 verwendet wird, haben die älteren unter den Teilnehmenden in ihrer Schulzeit ohne Internet und Handys nicht erfahren, werden aber seit einigen Jahren beruflich stark damit konfrontiert. Gastreferent Matthias Felling analysiert im Detail das Wesen des Mobbings und Cybermobbings sowie die Abgrenzung zu Hate Speech. Auch auf die Folgen bei den Täter*innen und Opfern sowie die Rollen der Beteiligten weist der Fachreferent für Jugendmedienschutz & Medienpädagogik von der Arbeitsgemeinschaft Kinder- und Jugendschutz NRW (AJS) hin. Wie sehr Mobbing beispielsweise noch viele Jahre später auch die Täter*innen belastet, berichtet eine Teilnehmerin. So habe eine Mobberin aus der Schulzeit im Erwachsenenalter Kontakt zu ihrem Opfer aufgenommen und sich in aller Form entschuldigt.

Schnell wird deutlich, dass Mobbing nicht so leicht zu lösen ist. Die Übergänge zwischen Mobbing und Cybermobbing sind fließend, da Jugendliche immer mehr Zeit am Smartphone verbringen, insbesondere seit der Corona-Krise. De Facto ist Cybermobbing rund um die Uhr möglich. Mit einem Smartphone-Verbot an der Schule ist es deshalb nicht getan. Das Problem verlagert sich in den nicht kontrollierbaren Bereich, ein Schutzraum fällt weg. "Der digitale Raum ist der natürliche Lebensraum der Kinder und Jugendlichen", bringt es der Diplom-Pädagoge auf den Punkt. Es stelle sich die Frage nach der Verantwortung der Lehrer*innen über den Unterricht hinaus. Eine Teilnehmerin beklagt die fehlende Vernetzung zwischen der Lehrerschaft und der Offenen Jugendarbeit. Mobbingfälle aus dem Schulkontext würden in die Einrichtungen hineingetragen, ohne dass diese über die Hintergründe informiert seien.

Ein weiteres Problem: Cybermobbing verbreitet sich rasend schnell. Unangemessene Fotos sind mit einem Mausklick verbreitet, werden kommentiert und weitergeteilt. "Mobbing kann jede*n treffen", stellt Felling klar. Auch diejenige*n, die Mobbing nicht aktiv unterstützten, nähmen eine Rolle ein. "Mobbing gibt Struktur und wirkt gruppenstabilisierend."

Armut und Mobbingerfahrung

Den Zusammenhang zwischen Armutsbetroffenheit und Mobbing erläutert Felling anhand der Studie „Health Behaviour in School-aged Children" 2017/18, "Schulisches Mobbing unter Kindern und Jugendlichen" des HBSC-Studienverbunds Deutschland (Gesundheitsberichterstattung des Bundes). Demnach werden Heranwachsende aus Familien mit niedrigem Wohlstand häufiger gemobbt als Gleichaltrige aus Familien mit höherem Wohlstand. Mädchen und Jungen mit Migrationshintergrund berichten zudem häufiger, selbst in der Schule gemobbt zu werden, als jene ohne Migrationshintergrund. Fehlende Markenkleidung oder ein veraltetes Handy können schnell Angriffsfläche bieten. Wenn Sprache, Aussehen, Herkunft oder kulturelle Aspekte ganzer Gruppen von Menschen im Mittelpunkt des Angriffs stehen, spricht man von gruppenbezogener Diskriminierung. Im Dialog wird deutlich, dass jede*r sowohl Täter*in als auch Opfer von Mobbing sein kann. Um Mobbing bereits früh erkennen zu können, nennt Felling den Teilnehmer*innen fünf Merkmale:

  • Eine Person wird über einen längeren Zeitraum wiederkehrend angegriffen
  • Es finden direkte oder indirekte verbale, physische und psychische Attacken statt
  • Zwischen Täter(n) und Opfer besteht ein Machtgefälle
  • Die angegriffene Person kann sich nicht selbst zur Wehr setzen
  • Mobbing vollzieht sich in einer Gruppe und bezieht alle Gruppenmitglieder in unterschiedlichen Rollen mit ein

Auch wenn nicht jeder Streit Mobbing sei, könne man durch besondere Aufmerksamkeit Mobbing erkennen und Kinder und Jugendliche vor den verheerenden Folgen schützen.

Prävention und Lösungsansätze

Was ist zu tun, damit Mobbing erst gar nicht entsteht? Die Präventionsmaßnahmen, die Felling in der Online-Veranstaltung vorstellt, machen Mut. Wer Medien- und Sozialkompetenz der Kinder und Jugendlichen stärkt, Hilfestrukturen aufbaut und Regeln mitentwickelt, trägt maßgeblich dazu bei, (Cyber-)Mobbing vorzubeugen. "Prävention muss als Ziel dauerhaft verankert werden", so Felling. Eine Teilnehmerin berichtet über positive Erfahrungen mit einem Gewaltpräventionsprogramm für Kitas. Das Erkennen von Gefühlen bei sich und anderen sowie die Wertschätzung untereinander hätten sich als wichtige Präventionspfeiler erwiesen.

Um bereits bestehende Mobbingfälle zu entschärfen, widmet sich Felling den Prinzipien der Intervention und ihren Möglichkeiten. Als besonders praxistauglich wird von einigen Teilnehmenden der vorgestellte No-Blame-Approach gelobt, bei dem auf Schuldzuweisungen verzichtet wird. Vielmehr werden die am Mobbing Beteiligten aktiv in den Lösungsprozess eingebunden. "Die Schüler*innen wachsen daran, selbst zur Problemklärung beitragen zu können", berichtet eine Fachkraft aus der Schulsozialarbeit.

Unabhängig davon, wie sich Mobbing entwickelt und an wen es sich richtet – Einigkeit herrscht darüber, stets ein wachsames Auge zu haben und bei Bedarf aktiv zu werden. "Fachkräfte sind in der Pflicht, zu handeln und zu reagieren", betont Felling. "Seid gute Verbündete", ermutigt Corinna Spanke, Fachberaterin der LVR-Koordinationsstelle Kinderarmut, die Teilnehmenden.

Henry, seinen Mitschüler*innen und den Fachkräften kann es gemeinsam gelingen, ihn vor Mobbing zu schützen. Dafür haben die Teilnehmenden des LVR-Austauschformats zum Thema Armut und Mobbing nun ihren Blick geschärft.

Ansprechpartnerin "Über Armut sprechen": Corinna Spanke