Pressemeldung
„Ich bin nicht gut darin, Liebe zu zeigen“
Wer kennt ihn nicht, den kleinen Prinzen von Antoine de Saint-Exupéry, der mit dem Herzen das Wesentliche erkennt. Vom Trinker möchte er wissen, warum er denn trinkt. Weil er vergessen möchte, dass er sich schämt, antwortet dieser. „Und warum schämst du dich?“, fragt der kleine Prinz. „Ich schäme mich, dass ich trinke“.
Von Natalie Deissler-Hesse, LVR-Landesjugendamt
Kinder aus suchtkranken Familien kennen diesen Kreislauf. Sie können sich nicht auf ein beständiges, erwartbares Gefüge einstellen, wenn sie aus der Schule nach Hause kommen. Wie ist die Stimmung gerade zuhause? Wie sind Vater oder Mutter drauf? Wird es Ärger geben? Ein Zuhause, das mit so viel Unwägbarkeiten verknüpft ist, verursacht Stress. Dies umschreiben Heranwachsende in „Unsichtbar“, einer Filmreihe des Medienprojektes Wuppertal über Kinder mit psychisch- und suchtkranken Eltern, die von der LVR-Initialförderung in der Kinder- und Jugendhilfe mitfinanziert wurde. Dem Filmemacher Tim Gontrum und seinem Team ist es gelungen, den Zuschauer*innen bewegende Einblicke in belastete Kindheiten zu vermitteln, ohne zu stigmatisieren. Gontrum möchte mit seinem Film für mehr Empathie und einen respektvollen Umgang unter Jugendlichen werben. „Niemand von uns sucht sich seine Familie aus. Wir als Gesellschaft sollten mehr für benachteiligte Kinder und belastete Familien tun“, wünscht er sich. „Die Kinder haben es verdient, dass ihre Not sichtbar wird und man ihnen Last abnimmt.“
Durch die sensiblen Fragen und Aufnahmen des Film-Teams sind die Kinder bereit, von ihren Erfahrungen mit einem tabubehafteten Thema zu berichten. „Mir gingen die Geschichten der Filmprojekt-Teilnehmenden unter die Haut“, sagt Gontrum rückblickend auf seine Arbeit an der Filmreihe. „Ich war beeindruckt, wie offen, klar und gefühlvoll sie ihre Geschichte erzählten“. Die Kinder berichten von ihrem angespannten Alltag, der meist als wohlbehütetes Geheimnis in der Gedanken- und Gefühlswelt der Kinder verbleibt. Aber auch Hilfsangebote, zum Beispiel in Form von Therapien, Jugendgruppen oder Pat*innen spielen in den vier dokumentarischen Kurzfilmen eine Rolle. Gedanken und Gefühle, die um die psychischen Erkrankungen oder Süchte der Eltern kreisen, sind nicht nur zuhause, sondern auch in Schule und Freizeit ständig präsent. Bestenfalls werden sie von der Umwelt als Konzentrationsschwäche interpretiert. Schlimmstenfalls münden sie in aggressivem Verhalten, eigenen Süchten oder psychischen Problemen.
Entlastende Unterstützungsangebote
Jugendgruppen beispielsweise, wie jene von Lebensfarben e.V., stärken Kinder und helfen ihnen dabei, besser mit den Erkrankungen der Eltern zurechtzukommen. Der Verein unterstützt und begleitet Kinder und Jugendliche psychisch und/oder suchterkrankter Eltern und deren Familien im Oberbergischen Kreis. In der Jugendgruppe verstehe man sie und ihre Probleme besser, weil auch die anderen Kinder zuhause eine ähnliche Situation hätten, erläutert ein Mädchen. Wenn man etwas preisgebe, werde es nicht nach außen getragen, ergänzen andere Kinder. Wichtig sei für sie, dass man dort „nicht verurteilt“ werde. Denn würden benachteiligte Kinder gemobbt, erschwere das deren Persönlichkeitsentwicklung häufig zusätzlich, bemerkt Gontrum.
Nicht nur für die Kinder, auch für die Eltern sind niedrigschwellige Hilfsangebote eine große Entlastung. Positive Kindheitserlebnisse und -erfahrungen, die Eltern ihren Kindern aufgrund ihrer Erkrankungen nicht oder zeitweise nicht bieten können, werden in Jugendgruppen oder mit sogenannten Pat*innen ermöglicht.
LVR-Kommunen zeigen passgenaue Hilfsangebote auf
Wertvolle Angebote wie diese – es gibt sie, und das ganz in der Nähe der Kinder und Jugendlichen. Doch es ist kompliziert. Hier die Kinder, da die Eltern. Auch wenn sie der Wunsch nach einer intakten Familie eint, so haben sie doch unterschiedliche Bedarfe und Probleme, die von Systemen begleitet werden, die ihrerseits verschiedene Sichtweisen mitbringen. So mag in der Kinder- und Jugendhilfe die psychisch erkrankte Mutter als „Problem“ für das Kind gesehen werden, während die Psychiatrie die Kindererziehung als Belastung bei der Genesung der Mutter sieht. Sprachlosigkeit oder aber Konkurrenzdenken zwischen den Systemen sind immer zulasten der Betroffenen, die dringend Unterstützung benötigen und sich die Fragen stellen: Wo und wie finde ich Hilfe? Wer sind die richtigen Ansprechpartner*innen für mich und meine Kinder?
Die Kommunen Düsseldorf, Essen und Solingen zeigen auf, wie das Knäuel der Hilfsangebote und –systeme für Betroffene entwirrt werden kann. Beim LVR-Werkstattgespräch „Kinder psychisch und/oder suchterkrankter Eltern - Kooperationen und Netzwerke“ am 5.6.2024 stellten sie ihre diesbezüglichen Bemühungen vor. In Düsseldorf beispielsweise haben das Jugend- und das Gesundheitsamt in gemeinsamer Verantwortung ämter-, träger- und institutionsübergreifende Strukturen geschaffen. Sie ermöglichen es, Probleme von Kindern und Jugendlichen zu identifizieren und diese in die für sie passende Hilfsstruktur zu begleiten. Auch die interdisziplinäre Fachstelle ElsE (Elternschaft und seelische Erkrankung) in Essen entstammt der Zusammenarbeit von Jugend- und Gesundheitsamt. Sie will die Situation von psychisch und/oder suchterkrankte Eltern verbessern und zugleich die Kinder in den Blick nehmen. Ein wichtiger Bestandteil der Arbeit von ElsE ist dabei die Enttabuisierung und Entstigmatisierung der Thematik „Elternschaft und seelische Erkrankung“. Die Stadt Solingen legt mit dem „Netzwerk Kinder psychisch erkrankter Eltern“ dar, wie eine effektive und schnelle Zusammenarbeit bei möglicher Kindeswohlgefährdung sichergestellt werden kann. Die Netzwerke Kinderschutz übernehmen hierbei eine tragende Rolle. Bei Mitteilungswegen ist dem Netzwerk größtmögliche Transparenz wichtig. Die drei Kommunen haben herausgestellt, wie wichtig es ist, Familien mit Suchtbelastungen oder psychischen Erkrankungen aufzufangen und ihnen passgenaue Hilfsangebote aufzuzeigen. Unterstützt werden Kommunen und freie Träger vom Dachverband Gemeindepsychiatrie e.V.. Kinder psychisch erkrankter Eltern ist eines der Schwerpunktthemen, für das sich der Dachverband engagiert.
Kinder und Jugendliche dürften eher die Kraft haben, ihre Probleme und Bedarfe zu benennen, als die Eltern-Generation. Letztere steht unter Druck, funktionieren zu müssen und wurde dazu erzogen, Ängste eher für sich zu behalten. Es erfordert viel Kraft, den Kreislauf von Scham und Verdrängung zu durchbrechen. Sie sei die erste in ihrer Familie, die sich mit ihren Gefühlen auseinandersetze, berichtet die Jugendliche Lexi in der Filmreihe des Medienprojektes Wuppertal. Alle anderen seien „im Verdrängungsmodus“. Sie befürchtet, dass es ihr schwerfallen wird, Liebe zu zeigen, wenn sie einmal Kinder haben sollte. Mit der richtigen Unterstützung aus dem großen Spektrum kommunaler Hilfsangebote wird ihr das ganz sicher gelingen!
„Unsichtbar“. Filmreihe über Kinder mit psychisch- und suchtkranken Eltern