Pressemeldung
Herausforderndes Verhalten von Kindern und Jugendlichen mit Behinderung
Beratende Arbeitsgruppe von LVR und LWL beleuchtet Herausforderungen in Wohneinrichtungen für Kinder und Jugendliche mit Behinderung / Interdisziplinäre Aufstellung ermöglicht verschiedene Perspektiven auf Rahmenbedingungen und notwendige Maßnahmen zur Verbesserung
Köln, 11. Dezember 2024. Für Kinder und Jugendliche mit Behinderung und herausforderndem Verhalten, die nicht mehr in ihrer Herkunftsfamilie oder in einer Pflegefamilie leben können, ist die Versorgungssituation häufig schwierig. Viele von ihnen mussten bereits mehrfach die Einrichtung wechseln - oft aufgrund von einzelnen eskalierenden Situationen wie fremd- oder selbstgefährdendem Verhalten.
Die Landschaftsverbände Westfalen-Lippe (LWL) und Rheinland (LVR) nehmen dieses Thema gezielt in den Blick und haben im April dieses Jahres die beratende Arbeitsgruppe zum Thema "herausforderndes Verhalten und Gewaltschutz in Wohneinrichtungen für Kinder und Jugendliche mit Behinderung" ins Leben gerufen. Ziel der AG ist es, notwendige Rahmenbedingungen zu analysieren und darauf aufbauend Empfehlungen zur Verbesserung der Situation zu formulieren.
Dabei ist die AG mit Expertinnen und Experten aus ganz unterschiedlichen Bereichen bewusst fachlich breit aufgestellt, um einen ganzheitlichen Ansatz sicherzustellen. Vertreten sind die Bereiche Wissenschaft, Kinder- und Jugendpsychiatrie, Justiz, Kommunale Spitzenverbände, Freie Wohlfahrtspflege und Selbsthilfe. Auch das Sozial- sowie Kinder- und Jugendministerium in NRW nehmen an der AG teil.
Der thematische Schwerpunkt der vergangenen AG-Sitzung, die jetzt in Münster stattfand, lag im Bereich „Ambulante Versorgungsstrukturen“. Deren Stärkung bildet einen wichtigen Beitrag, um eine Versorgung von Kindern in ihren Familien zu unterstützen und stationäre Unterbringungen zu vermeiden oder zeitlich zu begrenzen.
Prof. Dr. Sabine Schäper, Professorin für das Lehrgebiet "Heilpädagogische Methodik und Intervention" an der Katholischen Hochschule NRW, Abteilung Münster, ist Mitglied der AG und gibt im Kurzinterview eine Einschätzung zum Thema aus Sicht der Wissenschaft:
Frau Prof. Schäper, was ist aus Sicht der Wissenschaft herausforderndes Verhalten – insbesondere bei Kindern und Jugendlichen mit Behinderung?
Diese Frage ist nicht leicht zu beantworten, weil es sich um sehr komplexe Situationen handelt, die als „herausfordernd“ erlebt werden. Gemeint sind meist Verhaltensweisen, die Irritationen auslösen oder nicht den üblichen Erwartungen entsprechen, und die zugleich in einem bestimmten Setting „stören“. Zum Beispiel, weil Kinder den Unterrichtsverlauf permanent und nachhaltig unterbrechen oder andere Menschen in ihrer Sicherheit bedrohen. Es kann sich um fremdgefährdende Verhaltensweisen handeln, etwa körperliche Übergriffe, Beschädigung von Sachen oder auch Selbstverletzungen. Oft tangiert das Verhalten auch die Rechte oder Freiheitsräume anderer Personen. Herausforderndes Verhalten bei Menschen mit kognitiver Beeinträchtigung wird in vielen Bereichen als Grenzsituation erlebt und führt oft zum Ausschluss zum Beispiel vom Unterricht, zu längeren Aufenthalten in psychiatrischen Einrichtungen und zu belastenden Situationen in Familien.
Ein Themenschwerpunkt der beratenden AG sind Versorgungsstrukturen im ambulanten Bereich. Was kann man sich hierunter vorstellen?
Versorgungsstrukturen im ambulanten Bereich sind wichtig, um Menschen an ihrem ursprünglichen Lebensort, etwa in der Familie, so zu unterstützen, dass sie dort bleiben und in für sie relevanten Bereichen am Leben teilhaben können. Hier geht es um Beratung für Bezugspersonen in der Familie, heilpädagogische Unterstützung in KiTa oder Schule, psychiatrische Behandlung vor Ort, gute sozialpädiatrische Diagnostik und wohnortnahe therapeutische Hilfen. Es geht also um alles, was Menschen hilft, sich sicher zu fühlen, mit ihren sozial-emotionalen Regulationsschwierigkeiten ernst genommen zu werden und ihr Leben dort zu leben, wo ihre wichtigsten Bezugspersonen sind. Es geht um Orte, an denen sie mit ihren Verhaltensschwierigkeiten lernen können wie andere. Sie brauchen Möglichkeiten, an Freizeitangeboten teilzunehmen und mit Gleichaltrigen in Beziehungen sein können – Orte, an denen sie sein können, ohne überfordert zu werden. Und es geht um niedrigschwellige Zugänge für Familien, die ihren Kindern diese Hilfen ermöglichen möchten.
Wie können Versorgungsstrukturen im ambulanten Bereich Kinder mit herausforderndem Verhalten und Behinderung unterstützen?
Man kann sagen: Je komplexer die Bedingungen des als störend empfundenen Verhaltens, umso komplexer müssen die individuellen Unterstützungsarrangements sein. Es braucht meist verschiedene fachliche Perspektiven – medizinische, psychologische, heilpädagogische Expertise – um herausfordernde Verhaltensweisen zu verstehen und positive Entwicklungsangebote zu machen: sozial-emotionales Lernen, Orte der Anerkennung und Wertschätzung, Erlebnisräume für Selbstwirksamkeit. Ebenso ist eine gute Unterstützung für Familien wichtig, die für Kinder und Jugendliche als primäre Orte des Aufwachsens unersetzlich sind – auch wenn es in manchen Situationen ersetzende und unterstützende Settings braucht. Wichtig scheint mir, Familien von Anfang an verlässlich und durch einfache Zugangswege zu Beratung und Unterstützung zu begleiten. Sie sollten das Gefühl haben, von der Gesellschaft gesehen zu werden und selbstverständliche Unterstützung zu bekommen. Eltern, die sich sicher fühlen, können ihren Kindern viel Sicherheit geben, auch in Grenzsituationen.
Weitere Informationen über die beratende Arbeitsgruppe zum Thema "herausforderndes Verhalten und Gewaltschutz in Wohneinrichtungen für Kinder und Jugendliche mit Behinderung" gibt es unter:
www.soziale-teilhabe-kiju.lwl.org/de/fuer-fachleute/beratende-ag-herausforderndes-verhalten-fuer-kinder-und-jugendliche-mit-behinderung/
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Prof. Dr. Sabine Schäper von der Katholischen Hochschule NRW bei der dritten AG-Sitzung.
Foto: Julia Hoffmann / LWL.
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Die beratende Arbeitsgruppe zum Thema "herausforderndes Verhalten und Gewaltschutz in Wohneinrichtungen für Kinder und Jugendliche mit Behinderung" mit Expertinnen und Experten aus den Bereichen Wissenschaft, Kinder- und Jugendpsychiatrie, Justiz, Kommunale Spitzenverbände, Freie Wohlfahrtspflege, Selbsthilfe und dem Sozial-, sowie Kinder- und Jugendministerium in NRW.
Foto: Julia Hoffmann / LWL.
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