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Pressemeldung

„Das ist keine Schule der Demokratie, das ist Demokratie“

Beteiligung von Kindern und Jugendlichen ist in den vergangenen Jahren in Kommunen im Aufschwung. Die Stadt Remscheid hat umfassend, engagiert und wertschätzend Voraussetzungen geschaffen, um Partizipation von Jugendlichen nachhaltig zu verankern.

Von Natalie Deissler-Hesse, LVR-Landesjugendamt

Angesichts der Erfolge extremistischer Parteien und des sinkenden Vertrauens in die Problemlösungsfähigkeit demokratischer Akteur*innen scheint es für Heranwachsende wichtiger denn je, Demokratiefähigkeit und Partizipation zu erleben. Natürlich gibt es sie, die Jugendlichen, die schon eine klare Vorstellung von der Zukunft haben und diese aktiv mitgestalten. „Fridays for Future“ ist nur ein Beispiel. Doch während bekannte Jugendbewegungen von sich reden machen, entwickeln sich in einer Stadt im Bergischen Land weitestgehend unbemerkt von der großen Öffentlichkeit feine demokratische Prozesse und Strukturen bei der Jugend.

Der Jugendrat oder Wie geht Beteiligung?

Die Rede ist von Remscheid. In der Kommune werden die Belange der Jugendlichen ernst genommen. Der seit nunmehr 20 Jahren bestehende und derzeit 11. Jugendrat ist eine Institution in Remscheid, die hohe Wertschätzung in der Politik genießt. Dass Oberbürgermeister Burkhard Mast-Weisz bei den Sitzungen des Jugendrats vorbeischaut, ist eher die Regel als eine Ausnahme. Das Motto des 16-jährigen Daniel Bielecki, der dem aktuellen Jugendrat vorsitzt, lautet: „Es gab nie mehr zu tun.“ Eine sehr ambitionierte Stimme aus den Reihen der Jugendlichen, denen allgemein gerne Demokratiemüdigkeit vorgeworfen wird. Den Wunsch, sich an der Gestaltung seiner Heimatstadt einzubringen, teilt er mit den anderen 15 Mitgliedern des Jugendrats, der jeweils für zwei Jahre gewählt wird. Der 11. Jugendrat ist neben einer Fülle weiterer Aktivitäten damit befasst, die Ideen der Remscheider Jugendlichen umzusetzen, um die Stadt attraktiver für junge Menschen zu machen.

Demokratie erproben: Startschuss durch die Jugendbefragung

Den Anstoß für die partizipative Entfaltung der Jugendlichen gab eine großangelegte Jugendbefragung aus dem Jahr 2022, die der Fachdienst Jugend der Stadt Remscheid beauftragte und nun begleitet. Die durch ein Team des Instituts für sozialraumorientierte Praxisforschung und Entwicklung ISPE e.V. um Prof. Ulrich Deinet durchgeführte Online-Umfrage hatte rund 800 Jugendliche im Alter zwischen 14 und 18 Jahren erreicht. Stolze 20 Prozent der Remscheider Jugendlichen haben somit ihre Haltung zu den an sie gerichteten Angeboten offengelegt und einen intensiven Einblick in ihre Lebenswelt gegeben. „Im Mittelpunkt der Befragung steht die Freizeitsituation der jungen Menschen, die Möglichkeiten der Beteiligung für Jugendliche in unterschiedlichen Bereichen und die Frage, wie sich die Einrichtungen und Angebote der Jugendarbeit den veränderten Lebenslagen anpassen und damit weiter entwickeln können“, erläutert Studienleiter Prof. Deinet. Ergänzt wurde die Online-Umfrage durch eine qualitative Befragung unter rund 180 Jugendlichen, die sich konkret zu Jugendeinrichtungen im öffentlichen Raum äußerten. Wie schafft es eine Stadt, eine derart hohe Beteiligung zu erreichen? „Die Befragung war überall in der Stadt Thema“, berichtet Michael Ketterer vom Fachdienst Jugend. Hier wurde aus dem Blickwinkel der Jugendlichen mitgedacht: Jugendnahe Marketingmaßnahmen wie bedruckte Bierdeckel, Hinweise durch Influencer*innen auf Social Media und ein Gewinnspiel auf einer Beach Party machten die Befragung für Jugendliche allgegenwärtig in ihrer Lebenswelt.

Workshops: Die Jugendlichen stehen im Mittelpunkt

Nach der feierlichen Präsentation der ersten Ergebnisse der Jugendbefragung wurden in Workshops Ideen und Handlungsempfehlungen entwickelt. Einige der Workshops fanden unter Beteiligung des Jugendrats, weiterer Jugendlicher und der Fachkräfte der Jugendarbeit statt. Hier konnten die Jugendlichen Demokratie erleben und sich intensiv beteiligen. Statt nach der Schule ihre Freizeit zu genießen, entschieden sie sich, die Workshops und damit auch ihre Zukunft mitzugestalten. Eine wertschätzende Ausrichtung der Veranstaltungen mit Symbolcharakter vermittelte den Jugendlichen die Relevanz ihrer Beteiligung. Statt aufgerissener Chipstüten in einer Mehrzweckhalle rahmte ein Büffet mit Fingerfood den kleinen Sitzungssaal im Rathaus. Der nahbare Oberbürgermeister Burkhard Mast-Weisz, dessen berufliche Wurzeln in der sozialen Arbeit liegen, unterstützt und begleitet die Arbeit des Jugendrats seit Jahren. Auch bei einem der Workshops war er anwesend. Hier waren jedoch die Jugendlichen die Protagonist*innen. „Bei den Workshops waren alle Augen auf die Jugendlichen gerichtet“, erinnert sich Jens Stuhldreier von der Jugendförderung. Sie schätzten den Austausch auf Augenhöhe und fühlten sich ernst genommen. Der Dialog zwischen den Jugendlichen und Fachkräften, also der jungen Lebenswelt und ihrem fachlichen Verständnis, führte unausgesprochen zu dem Credo: Wir kriegen das zusammen hin!

Das Potpourri an Ideen und Wünschen, um nur ein paar zu nennen – mehr niedrigschwellige Freizeitangebote für ältere Jugendliche vor allem in Jugendzentren, mehr Wochenendangebote und mehr Werbung für diese – hielt auch Überraschungen bereit: Themen wie Sicherheit und Sauberkeit, die man eher mit der älteren Generation in Verbindung bringt, waren den Jugendlichen ausgesprochen wichtig. So wurde beispielsweise der Wunsch nach mehr Kontrollen des Ordnungsamts in Bahnhöfen, Parks und Bushaltestellen laut, ebenso wie nach mehr Mülleimern und Pfandringen.

Konkrete Maßnahme erarbeiten: „Das Jugendcafé muss auf der Alleestraße sein!“

Die Kritik an fehlenden Aufenthaltsmöglichkeiten im öffentlichen Raum konkretisierte sich im expliziten Wunsch der Jugendlichen, ein Jugendcafé zu eröffnen. Wie auch für andere erarbeitete Schwerpunkte wurde für das Projekt Jugendcafé eine Arbeitsgruppe eingerichtet, die von der regen Beteiligung der Jugendlichen lebte. Ein „unpädagogisierter“ Raum ohne kommerzielle Zwänge und mit gelegentlichen Veranstaltungen, an dem man Hausaufgaben machen kann, so lauteten einige der Vorschläge. Wichtig war den jungen Menschen auch, das Café selbst zu betreiben und „hinter der Theke zu stehen“. Auch am Kostenkonzept des Cafés waren die Jugendlichen beteiligt. In Diskussion stand ein gemeinsames Projekt von Jugendamt, Jugendeinrichtungen und Schule – man habe „alle Schnittstellen, die hierbei möglich waren, ausgelotet“, betont Michael Ketterer.

Alleestraße und Alleecenter sind in der Remscheider Innenstadt wichtige Aufenthaltsorte für die Jugendlichen. Entsprechend groß war der Wunsch, das Jugendcafé dort zu eröffnen. Nicht nur die Stadtentwicklung würde durch eine öffentliche Einrichtung in der Innenstadt wiederbelebt werden, auch die Kooperation zwischen unterschiedlichen Akteur*innen würde gestärkt. „Endlich macht das mal einer!“, war die erleichterte Reaktion eines Jugendlichen auf die konkreten Pläne zum Jugendcafé.

Die Bibliothek als freundlicher Lernort

Keine Frage, chillen und Partys gehören zur Jugend. (Stadt-)Bibliotheken hingegen stehen vor der Herausforderung, die als „Bibliotheksmuffel“ verdächtigten Jugendlichen zu binden. Ein für Heranwachsende attraktives Angebot und Ambiente muss her. Darüber, wie eine gute Lern- und Leseatmosphäre konkret aussehen kann, hat sich insbesondere ein Mitglied des Jugendrats Gedanken gemacht. Die Jugendliche erhielt für Ihren Vorschlag, die Öffnungszeiten auf 20.00 Uhr zu verlängern großen Zuspruch. Schließlich kann eine Schulpflichtige mit Nachmittagsverpflichtungen ein Zeitfenster von 9.00 Uhr bis 17.00 Uhr nur in sehr begrenztem Umfang nutzen. Neben Anregungen zu Bücherbestand und Buchvorstellungen war den Jugendlichen wichtig, dass Hausaufgaben in einer angenehmen Lernatmosphäre mit möglicher Verpflegung für kleines Geld erledigt werden können. Mit den Ideen aus dem Workshop gelang es, ein Expert*innengespräch mit der Stadtbibliothek Remscheid auf die Beine zu stellen, in dem die Bedarfe der Jugendlichen im Mittelpunkt standen und diskutieren wurden. Die Beteiligten lobten auch hier die Kommunikation auf Augenhöhe.

Unterstützung der Politik und Finanzierung sichern

So wichtig Partizipation für sich genommen ist – um nachhaltig zu wirken, muss deren Umsetzung finanziert und der Rückhalt der Politik gegeben sein. Ein großer Moment, wenn die Arbeit von zwei Jahren als Beschlussvorlage mit Kostenplan in letzter Instanz auf dem Schreibtisch des Stadtrats liegt. Zunächst war über den Maßnahmenkatalog mit einem Volumen von rund 243.000 Euro im Jugendrat beraten worden. Entscheidend sei bei dem Katalog gewesen, dass die Jugendlichen ihre Ideen wiederfinden, betont Michael Ketterer. Zugleich sei es wichtig gewesen, die Maßnahmen für die beiden Haushaltsjahre transparent darzustellen. Eine derart ausdifferenzierte und umfangreiche Ausarbeitung hält er, nicht ohne Stolz, für außergewöhnlich.

Der Fachdienst Jugend sieht sich in dem Prozess als Unterstützer und Mittler zwischen Jugendlichen und Politik. Die Fachkräfte sorgen bei dem Transfer der Ergebnisse und Ideen für Transparenz und Verbindlichkeit. Der positive Nebeneffekt der intensiven Zusammenarbeit: „Das Prozedere hat unsere Abteilung näher zusammengebracht“, berichtet Jens Stuhldreier. Auch die Kooperation mit den Trägern sei gestärkt worden.

Die Verabschiedung durch den Stadtrat war ein Meilenstein für die Jugendbeteiligung in Remscheid: Die jungen Menschen haben maßgeblich und beglaubigt dazu beigetragen, jugendrelevante Angebote ihrer Stadt zu verbessern und auszubauen. “250.000 Euro bei der Stadt locker machen und in ein konkretes Maßnahmenpaket schnüren – für einen Jugendrat ist das schon beachtlich“, schrieb die Rheinische Post lobend in einem Kommentar. Vielleicht könne „der eine oder andere Politiker mal ein Praktikum beim Jugendrat machen“, hieß es dort scherzhaft. Das Vertrauen der Politik in die Jugendlichen habe ihn tatsächlich beeindruckt, sagt Michael Ketterer rückblickend. Man habe die Jugendlichen ganz in Ruhe ihre Ideen und Maßnahmen entwickeln lassen, anstatt sich ein prestigeträchtiges Ziel herauszupicken.

Das Ziel: Demokratie mit Leben füllen und Zukunft mitgestalten

Wie Demokratie geschützt und aufrechterhalten werden kann, beschäftigt Wissenschaftler*innen und Organisationen jeder Couleur. Zum Internationalen Tag der Kinderrechte am 20. November forderte der Geschäftsführer von Unicef Deutschland, Christian Schneider, Kinder stärker an demokratische Werte heranzuführen. „Denn Demokratie braucht Nachwuchs.“ Der Theologe und Bürgerrechtler Friedrich Schorlemmer, der jüngst verstarb, befasste sich mit der Frage, wie es gelingen könne, die jüngere Generation für aktive Demokratie zu gewinnen. Dies hänge davon ab, ob Heranwachsende sehr früh das Gefühl bekämen, dass Einmischung erwünscht sei und erfahrbare Folgen habe.

Das Beispiel Remscheid wird zeigen, ob Jugendliche, die nun darin geübt sind, ihr Umfeld mitzugestalten und erfahren haben, dass ihre Beteiligung umgesetzt wird, sich in Zukunft auch als Erwachsene aktiv in die Demokratie einbringen werden. Die Remscheider Jugend zumindest hat, auch dank guter Voraussetzungen und wohlwollender Politik, Partizipationspraxis entwickelt und erweitert. Die Verstetigung des großen Kraftakts ist noch lange nicht abgeschlossen, aber in vollem Gange. Zwar werden die Jugendlichen nicht mehr von allem profitieren können, was sie in die Wege geleitet haben. Verloren sind die Früchte der Partizipation deshalb nicht: Evaluierte Maßnahmen, die sich nach einer Laufzeit von 18 Monaten bewährt haben, sollen in den neuen Kinder- und Jugendförderplan 2026 bis 2030 aufgenommen werden. Die Jugendförderung überlegt, die Jugendbefragung als Standardinstrument in die Arbeit aufzunehmen. Beim Jugendrat um Daniel Bielecki stehen schon die Nachrücker*innen in den Startlöchern. Andere Kommunen können das Best-Practice von Remscheid an eigene Bedarfe anpassen. „Das ist keine Schule der Demokratie, das ist Demokratie“, resümiert Michael Ketterer mit Blick auf die partizipative Leistung der Jugendlichen beim Maßnahmenkatalog. „Der Input kam von den Jugendlichen selbst. Sie waren die Subjekte.“