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Pressemeldung

Wer ist hier sozial schwach? Ein Plädoyer für eine armutssensible Sprache

In der fachlichen Diskussion ebenso wie in der öffentlichen Berichterstattung werden Kinder, Jugendliche und Familien, die in finanzieller Armut aufwachsen, immer wieder als sozial schwach oder auch bildungsfern tituliert. Alexander Mavroudis, Leiter der LVR-Koordinationsstelle Kinderarmut, plädiert für eine armutssensible Sprache, bei der Zuschreibungen vermieden und darauf geachtet wird, gesellschaftspolitisch verursachte Problemlagen nicht pauschal als Manko der Menschen selbst darzustellen.

Was heißt sozial schwach?

Wenn der Blick auf Menschen gerichtet wird, die unter schwierigen Lebensbedingungen aufwachsen, fällt immer mal wieder der Begriff „sozial schwach“. Manchmal wird sogar gleich der ganze Stadtteil als sozial schwach bezeichnet, in dem sie leben. Was auf den ersten Blick vielleicht als sprachlicher Versuch erscheinen mag, Verständnis für ungleiche Lebensbedingungen und -chancen zu zeigen, ist bei genauerem Hinsehen doch viel mehr und in doppelter Hinsicht problematisch.

Zum einen findet eine Zuschreibung statt. Pauschal wird all diesen Menschen zugeschrieben, sie seien sozial schwach. Was heißt das aber? Das Soziale nimmt Bezug auf das Zusammenleben in unserer Gesellschaft. Es geht also darum, welche Kompetenzen man hier hat, ob man also zum Beispiel zugewandt ist, sich für Andere einsetzt, in der Familie, in der Nachbarschaft. Ein weiterer Aspekt berührt die Eingebundenheit in das soziale Umfeld, also ob man persönlich im eigenen Lebensumfeld gut vernetzt ist, Freunde hat, Unterstützung erfährt und vieles mehr.

Unter diesen Gesichtspunkten sind Menschen, die unter schwierigen finanziellen Bedingungen leben, natürlich nicht per se sozial schwach. Und man müsste ganz andere Akteure in den Blick nehmen: zum Beispiel Unternehmen, die Mitarbeitende nicht angemessen bezahlen, Personen, die Steuern hinterziehen oder durch Spekulationen mit Bankengeldern gesellschaftliche Ressourcen vernichten oder auch Populisten, die im politischen Diskurs polarisieren.

Zum anderen findet mit der Zuschreibung „sozial schwach“ eine Verkehrung von Ursache und Wirkung statt und werden gesellschaftspolitische Probleme individualisiert. Man ist arm, weil man vermeintlich sozial schwach ist. Damit ist die Gesellschaft aus der Verantwortung und die betroffenen Menschen sind sich selbst überlassen. Die wirklichen Ursachen für Armut wie zum Beispiel prekäre Einkommen im Niedriglohnsektor oder die Verteilung von Reichtum bleiben unangetastet.

Nun ist nicht von der Hand zu weisen, dass fehlende finanzielle Ressourcen den Lebensalltag beeinflussen, zum Beispiel was Mobilität oder Teilnahme an Kultur angeht. Dies begründet jedoch keinen Automatismus im Sinne von „Wer arm ist, ist auch (sozial) schwach“. Ganz im Gegenteil ist es wichtig und spannend zu erkennen, welche Bewältigungsstrategien Menschen in schwierigen Lebenslagen entwickeln, welchen Zusammenhalt es in den Familien gibt, wie viel Eltern auf sich nehmen, um ihren Kindern ein gutes Aufwachsen zu ermöglichen, und wie man sich untereinander im Wohnquartier, im Familien- und Freundeskreis hilft. Einen solchen erkenntnisoffenen und wertschätzenden Blick gebietet nicht nur der Respekt, er ist zudem eine wichtige Voraussetzung, um diese Menschen gut unterstützen zu können.

Wer ist eigentlich bildungsfern?

Dass die Zuschreibung „sozial schwach“ kein Einzelfall ist, zeigen weitere Begriffe wie bildungsfern, bildungsarm, ausbildungsfern, die sich leider in fachlichen Diskussionen etabliert haben. Auch hier bleiben ursächlich gesellschafts- und bildungspolitische Probleme unerwähnt. Schülerinnen und Schülern wird die Verantwortung für niedrige oder fehlende Schulabschlüsse zugeschrieben, statt das Bildungssystem selbst in den Blick zu nehmen, dem es seit Jahren nicht gelingt, die soziale Ungleichheit in der Bildung auszugleichen; sie wird manchmal eher noch manifestiert.

Nun gibt es sicherlich Eltern, die selbst über keine guten formalen Schulabschlüsse verfügen. Diesen Eltern wird es gegebenenfalls schwerfallen, ihre Kinder und Jugendlichen beim Lernen zu unterstützen, gerade wenn sie eine höhere Schulform besuchen. Das heißt aber nicht, dass die Eltern bildungsfern sind. Ganz im Gegenteil sind sie an einer guten Schulausbildung interessiert und werden alles versuchen, um ihre Kinder dabei zu unterstützen. Sie sind sich ihrer Mitverantwortung für gelingendes Aufwachsen und eine gute Bildungsbiografie bewusst.

Hinzu kommt, dass Begriffe wie bildungsfern oder bildungsarm äußerst widersprüchlich sind und Bildung oft auf formale Schulabschlüsse reduzieren Bildung ist aber so viel mehr und umfasst zum Beispiel sowohl das reichhaltige Alltagswissen, das alle Eltern – losgelöst von ihrer formalen schulischen und beruflichen Qualifikation – ihren Kindern mit auf den Weg geben als auch das Wissen, das sich Kinder und Jugendliche an nonformalen und informellen Bildungsorten selbst aneignen und das ihnen hilft, trotz manchmal schwieriger Bedingungen gut durchs Leben zu kommen.

Gleichermaßen kritisch zu reflektieren sind Begriffe wie schulfähig und schulreif. Sie implizieren, dass es die Kinder und Jugendlichen sind, die sich den Bildungsinstitutionen anzupassen haben. Das widerspricht diametral dem Leitgedanken „Vom Kind her denken“. Demnach müssen sich die Bildungsinstitutionen fragen, ob sie kind- und jugendlichengerecht sind und ob es ihnen gelingt, diese angemessen zu fördern. – Wenn Schülerinnen und Schüler der Schule fernbleiben, schulmüde sind und den Schulbesuch verweigern, kann das also daran liegen, dass sie ihrer eigenen Verantwortung für eine gelingende Schullaufbahn nicht gerecht werden. Man könnte es aber auch als Indikator dafür sehen, dass die Bildungsinstitutionen es nicht geschafft hat, alle gleichermaßen in den Blick zu nehmen und zu fördern.

Konsequenzen

Sprache ist Ausdruck unserer Denkmuster und transportiert manchmal unbeabsichtigt, manchmal sehr bewusst bestimmte Bilder. Gerade deshalb müssen wir alle, die wir mit und für Kinder, Jugendliche und ihre Familien arbeiten, uns unserer Sprache und unserer Begriffe bewusstwerden und darauf achten, welche Wahrnehmungsmuster uns leiten und welche Bilder wir vermitteln. Und wir müssen sensibel sein beim Sprachgebrauch Anderer und gegebenenfalls „Einspruch erheben“, wenn im fachlichen Diskurs mal wieder von den sozial Schwachen die Rede ist.

Das gilt insbesondere dort, wo wir mit und für Menschen in benachteiligten Lebenslagen tätig sind. Denn sonst verstärken wir Zuschreibungen; die Menschen hören uns aufmerksam zu und sind sensibel für unsere Sprachbilder. Zudem laufen wir Gefahr, keinen Zugang zu ihnen zu bekommen, von Vertrauen ganz zu schweigen, und ihre Potenziale zu übersehen. Und nur so können wir unserem sozialpolitischen Mandat gerecht werden und die wirklichen gesellschaftspolitischen Ursachen von Ungleichheit und Armut in den Blick nehmen.

Alexander MAVROUDIS

LVR-Landesjugendamt Rheinland

Koordinationsstelle Kinderarmut