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Pressemeldung

"Familien in Armutslagen sind nicht ausreichend im Blick"

Ist die Sorge gerechtfertigt, dass gefährdete Kinder und Jugendliche aufgrund der Reduzierungen der Sozialkontakte „unsichtbar“ werden? Alexander Mavroudis, Leiter der LVR-Koordinationsstelle Kinderarmut, problematisiert in einem Interview mit Natalie Deissler-Hesse, dass Kinderrechte in der Corona-Krise nicht ausreichend mitbedacht werden.

Die Bevölkerung beschäftigt sich derzeit zwangsläufig stark mit dem Infektionsschutz rund um Corona. Werden dabei die Rechte von Kindern und Jugendliche ausreichend mitbedacht?

Alexander Mavroudis: Ein klares: Nein!

Der Fokus auf Gesundheit ist natürlich richtig und wichtig. Allerdings wird bei den politischen Entscheidungsprozessen die Perspektive der Kinderrechte aus meiner Sicht nicht ausreichend mitberücksichtigt – was gemäß UN-Kinderrechtskonvention eigentlich selbstverständlich sein sollte. Die wochenlangen Einschränkungen in den Alltag und das soziale Leben von Kindern und Jugendlichen sind gravierend und betreffen das Miteinander mit Freund*innen, den Besuch von Spielplätzen, den gemeinsamen Sport, das unbelastete Bewegen „vor der Tür“. Kitas, Jugendeinrichtungen, Jugendvereine und Schulen fehlen als Lern- und Lebensorte. Das Erleben von Kindheit und Jugend als Grundrecht ist damit massiv eingeschränkt. Das betrifft alle Kinder und Jugendlichen.

Besonders belastend können diese Einschränkungen für junge Kinder sein: Ihre Welt verändert sich, ohne dass sie wissen warum. Denn wie soll ein Vierjähriger verstehen, dass er nicht mehr mit den Nachbarskindern spielen darf. Diese Kinder sind also nicht nur in ihrem Alltagserleben eingeschränkt; hinzu kommen können der Verlust von Sicherheiten, Ängste. Sie sind zudem besonders davon betroffen, wie gut – oder eben nicht – ihre Eltern mit der aktuellen Situation klarkommen. Sie spüren zunehmende Spannungen, auch Existenzängste, ohne zu wissen, warum das so ist, und fragen sich möglicherweise: ‚Bin ich Schuld?‘ Sie sind den ganzen Tag mit ihren Eltern zusammen, die im Home-Office arbeiten, dürfen sie aber nicht wie sonst ständig „ansprechen“. Das Zuhause verändert sich. Was das alles für die psychosoziale Entwicklung von Kindern bedeutet, vor allem wenn diese Ausnahmesituation immer länger andauert – was sich übrigens nicht in Zahlen abbilden lässt! –, wissen wir nicht.

Was bedeutet die aktuelle Situation für Kinder und Jugendliche aus belasteten Familien – sind diese noch im Blick?

Alexander Mavroudis: Neben den skizzierten Folgen kommen für Kinder und Jugendliche, die zum Beispiel in finanzieller Armut aufwachsen, erschwerend die Enge des Wohnraums, fehlende Mittel für gesundes Essen oder die technische Ausstattung beim Homescooling dazu. Viele werden das Essen in Kitas, Schulen und auch Jugendeinrichtungen ebenso wie die dort erfahrene Lern- und Lebensunterstützung vermissen.

Dass wir etwas tun müssen, um die strukturellen Ursachen von Armutslagen zu bekämpfen, ist nicht neu und eine zentrale Forderung des Impulspapieres, das der LVR-Landesjugendhilfeausschuss Rheinland am 29.11.2018 verabschiedet hat. Familien in Armutslagen sind nicht ausreichend im Blick – das wird bei den aktuellen politischen Entscheidungen leider nochmals besonders deutlich.

So basiert ja der Ansatz der kommunalen Präventionskette darauf, den möglichen Folgen von finanziellen Armutslagen durch frühzeitige Unterstützungsangebote der verschiedenen Hilfesysteme Kinder- und Jugendhilfe, Schule, Gesundheit usw. zu begegnen – und genau das wird aktuell massiv behindert, da fast alle diese Angebote und Einrichtungen geschlossen sind.

Hier besteht Nachbesserungsbedarf. Die sozialpolitische Perspektive der Armutsprävention muss Eingang finden in die anstehenden politischen Entscheidungsprozesse auf allen Ebenen.

Viele Fachkräfte und auch Wissenschaftler*innen wenden sich mit einem Appell für mehr Kinderschutz an Politik und Öffentlichkeit. Ist die Sorge gerechtfertigt, dass gefährdete Kinder und Jugendliche aufgrund der Reduzierungen der Sozialkontakte „unsichtbar“ werden?

Alexander Mavroudis: Ich möchte es mal so sagen: Auf der einen Seite fehlt der aufmerksame Blick von Fachkräften in Kinder und Jugendhilfe, Schule, dem Gesundheitswesen, aber ggf. auch anderen Akteursgruppen in der Öffentlichkeit – mögliche Anzeichen für eine Kinderwohlgefährdung bleiben so unentdeckt. Auf der anderen Seite gibt es gute Gründe anzunehmen, dass die erzwungene Nähe in einigen Familien, das Miteinander „rund um die Uhr“, die Sorgen der Eltern zu Anspannungen führen und es somit ggf. auch mehr Aggressionen und Gewalt gibt.

Wichtig ist nur: Das sind keine Kausalzusammenhänge, wir reden also über mögliche Gefährdungen.

Und: Das betrifft alle Milieus. In der öffentlichen Diskussion wird manchmal der Eindruck vermittelt, dass der Kinderschutz bei sozial benachteiligten, armen Familien einer besonderen Aufmerksamkeit bedarf. Sicherlich belasten, wie eben ausgeführt, eingeschränkte Einkommen und kleine Wohnungen zusätzlich. Das bedeutet aber nicht automatisch, dass es deshalb an elterlicher Fürsorge fehlt und Kinder stärker gefährdet sind.

Auch Dank der Initiative der Landesjugendämter ist es in NRW inzwischen gelungen, die „Notbetreuung“ in Kitas und (Ganztags-)Schulen auch für gefährdete Kinder zu öffnen. Das ist ein wichtiger Schritt.

Noch besserer wäre es allerdings, wenn zeitnah auch eine Diskussion darüber stattfindet, dass das gelingende Aufwachsen von Kindern und Jugendlichen für unsere Gesellschaft – ich benutze bewusst den Begriff – auch „systemrelevant“ ist.

Die Koordinationsstelle Kinderarmut unterstützt und berät die Jugendämter im Rheinland beim Auf- und Ausbau kommunaler Präventionsketten. Wie steht die Koordinationsstelle den Jugendämtern während der Corona-Krise zur Seite?

Alexander Mavroudis: Unsere Unterstützungsleistungen bestehen vor allem im persönlichen Kontakt bei Beratungen und Fortbildungen; das ist im Moment leider nur eingeschränkt möglich. Wir sind natürlich für unsere kommunalen Kooperationspartner*innen telefonisch ansprechbar und bieten, wie man so sagt, „ein offenes Ohr“. Das alleine reicht aber nicht. Deshalb hoffen wir, dass persönliche Beratungstermine bald wieder möglich sein werden.

Viele der engagierten Kolleg*innen in den Jugendämtern suchen aktuell nach Lösungen, wie der Kontakt und die Hilfen vor Ort weiterhin aufrechterhalten werden können. Und sie sind da durchaus erfolgreich, wie exemplarisch eine Befragung gezeigt hat, die bei den Netzwerkkoordinierenden der Frühen Hilfen in NRW stattgefunden hat; in diesem Newsletter gibt es dazu einen Hinweis.

Wir sehen unsere Aufgabe auch darin, solche Beispiele zu sammeln und zu kommunizieren. Von daher möchte ich an dieser Stelle die Kolleg*innen in den Jugendämtern dazu ermuntern, uns über ihre Erfahrungen, Angebote, aber auch „Stolpersteine“ zu informieren. So hat zum Beispiel eine Kollegin aus einem Jugendamt von dem Anruf eines Kindes berichtet, die Hilfe gesucht hat, weil sie nichts zu essen habe. Wir können diese dann so aufbereiten, dass Erfahrungen geteilt und das Lernen voneinander unterstützt wird.

Eine große Gefahr sehe ich aktuell darin, dass der präventive Handlungsansatz der Präventionskette angesichts der Krisenfokussierung in den Hintergrund gerät. Deshalb müssen wir dafür eintreten, die frühzeitige Unterstützung von Kindern, Jugendlichen und Familien aufrechtzuerhalten und weiter auszubauen. Die Veröffentlichung des neuen Förderprogramms „kinderstark – NRW schafft Chancen“ des Ministeriums für Kinder, Familie, Flüchtlinge und Integration NRW ist deshalb ein wichtiges Signal und eine Stärkung des Präventionsansatzes. Die Umsetzung stellt natürlich in der aktuellen Lage eine besondere Herausforderung für alle beteiligten Akteur*innen dar. Die Koordinationsstelle Kinderarmut steht den Jugendämtern hier unterstützend zur Seite – wir werden dafür eintreten, dass die Mittel möglichst schnell vor Ort zur Verfügung stehen können.

Darüber hinaus sehen wir uns gefordert, uns im Interesse aller Kinder und Jugendlichen einzumischen und – wie mit diesem kurzen Interview – offensiv für ihre Rechte einzutreten. Ich glaube, dass es wichtiger denn je ist, diese Lobbyfunktion gerade auch für Kinder und Jugendlichen in Armutslagen einzunehmen.