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Kind sein dürfen

Ein Geschenk für kleine Alltagshelden

Bild eines Kindes
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Ein Junge drückt aus, welche Stimmungen ihm häufig begegnen

Von Natalie Deissler-Hesse

Kinder suchtkranker und psychisch kranker Eltern sind tagtäglich mit nicht altersgemäßen Belastungen konfrontiert. Selbstbestimmtes Spielen kommt deshalb oft zu kurz. Mit einem Kunstprojekt möchte das Remscheider Netzwerk "Kleine Helden" belasteten Kindern spielerische Erfahrungen ermöglichen und eine positive Selbstwahrnehmung stärken.

Milas Lieblingspuppe liegt seit Tagen unberührt in der Ecke. Die Siebenjährige hat heute noch viel zu erledigen: Das schmutzige Geschirr stapelt sich in der Küche, ihr kleiner Bruder hat Hunger und ihre Mutter braucht dringend ein Glas Wasser. Mila weiß, immer wenn Mama Kopfschmerzen hat, muss es schnell gehen. Das Mädchen holt routiniert Kopfschmerztabletten, ein Glas Wasser und einen feuchten Lappen. Jetzt kann sie sich um ihren Bruder und dann um den Abwasch kümmern.

Viel Verantwortung, wenig Kindheit

Als Tochter einer Suchtkranken hat Mila schnell gelernt, Verantwortung für die Familie zu übernehmen. Ob es ihrer Mutter gut oder schlecht geht, kann sich schnell ändern. Mila ist auf diese Stimmungsschwankungen eingestellt und weiß, wie sie reagieren muss. Da sich ihre Eltern getrennt haben, hat die Grundschülerin ihr Leben voll und ganz auf die Bedürfnisse ihrer Mutter und ihres Bruders ausgerichtet. Wann sie zuletzt gespielt hat, weiß Mila nicht mehr. Wann sich jemand für sie persönlich Zeit genommen hat? Mila kann sich beim besten Willen nicht erinnern.

Spiel, Entspannung, Zeit und Raum für sich selbst, ohne Familie – das ist für Mila Luxus und zugleich ihr größter Wunsch. Das Remscheider Netzwerk „Kleine Helden“ weiß um diesen Bedarf von Kindern suchtkranker und psychisch kranker Eltern. In dem Netzwerk arbeiten Fachkräfte unterschiedlicher Berufsgruppen zusammen, um die Lebenssituation der Kinder nachhaltig zu verbessern.

Kunstprojekt stellt das Kind in den Mittelpunkt

In enger Kooperation mit den Eltern, den begleitenden Erziehungshilfen sowie mit der Musik- und Kunstschule der Stadt Remscheid ist es dem Netzwerk gelungen, ein Projekt ins Leben zu rufen, das die Bedürfnisse vielfach belasteter Grundschulkinder in den Mittelpunkt stellt. Träger des Projektes ist das Diakonische Werk des Kirchenkreises Lennep. Eigenmittel seitens des Diakonischen Werkes, der Heilpädagogisch-therapeutischen Praxis Katrin Binner sowie der Stadt Remscheid tragen im Wesentlichen zur Umsetzung bei. Gefördert wird das Projekt von der Koordinationsstelle Kinderarmut des LVR-Landesjugendamtes Rheinland (Landschaftsverband Rheinland) sowie mit Mitteln der gemeinnützigen Auridis-Stiftung. Durch künstlerisches Gestalten, Musik und Tanz lernen die Kinder, sich neu zu erleben. Der geschützte Raum erlaubt es ihnen, gemeinsam Spaß zu haben und den Alltag zu vergessen. Die erfahrenen Tanz- und Musiktherapeutinnen Irmela Boden und Deborah Mayer leiten das Projekt, begleitet von zwei pädagogischen Fachkräften. Von den Herbstferien bis in die Weihnachtszeit finden mehrere Treffen statt, an denen rund zehn Kinder teilnehmen.

Egal ob Mädchen oder Junge, älter oder jünger – die Kinder haben durch ihren gemeinsamen Erfahrungshintergrund schnell zusammengefunden. Mila fühlt sich wohl in der Gruppe. Bisher hat sie noch nie gefehlt. Behutsam tasten sich die Therapeutinnen an die Kinder heran und lassen sich auf ihre Wünsche ein. Diesmal ist Stopp-Tanzen angesagt. Immer, wenn die Musik anhält, sollen die Kinder einen bestimmten Gemütszustand ausdrücken. Mila lässt ihren lange unterdrückten Gefühlen freien Lauf. Sie ist überrascht, wie gut sie Wut pantomimisch darstellen kann. Auch die anderen Kinder sind voll in ihrem Element. „Wenn ich das tue, was ich gut kann, antwortet mir die Welt“, stellt Tanztherapeutin Irmela Boden fest.

Auch beim Malen zeigen die Kinder ihre beeindruckende Fantasie. Sie sollen heute etwas zu den Gegensätzen Spannung und Entspannung malen. Mit ihren sieben Jahren hat Mila schon eine genaue Vorstellung von diesen abstrakten Begriffen. Zum Thema Spannung malt sie ihre Familie. „Wir haben zuhause so viel Streit. Deswegen kann ich nachts nicht schlafen“, sagt Mila leise. Das Thema Entspannung gefällt ihr besser. Sie hat ein tanzendes und lachendes Kind gemalt. „Das bin ich“, erklärt sie. „Aber zum Tanzen komme ich eigentlich nie. Nur hier.“ Mila freut sich schon auf das nächste Treffen mit der Gruppe, wenn sie wieder Kind sein darf.