Fachstelle Elternschaft und seelische Erkrankung
„Eine Familie lässt sich nicht aufspalten“
Die Fachstelle Elternschaft und seelische Erkrankung (ElsE) in Essen nimmt die Bedarfe psychisch kranker Eltern und deren Kinder in den Blick. Um passende Unterstützungsangebote anbieten zu können, sind Austausch und Zusammenfinden verschiedener Fachdisziplinen entscheidend. Doch der Weg dahin ist eine Herausforderung.
Von Natalie Deissler-Hesse, LVR-Landesjugendamt
Das tägliche Gefühl tiefer Erschöpfung, auch wenn nichts anliegt, kennt Hanna seit ihrer Pubertät. Dennoch hat sie ihren Alltag einigermaßen im Griff. Ihr Job, ihr Partner und ein kleiner Freundeskreis tragen sie irgendwie durchs Leben. Doch seitdem sie Mutter ist, plagen sie tiefe Schuldgefühle. Habe ich genug Zeit für mein Kind? Ist meine Depression dafür verantwortlich, dass meine Tochter häufig aggressiv ist? Hat sie durch mich ein erhöhtes Risiko, später selbst depressiv zu werden?
Hanna ist eine von vielen Müttern oder Vätern, die dauerhaft oder phasenweise an Depressionen erkrankt sind. Der Fachgesellschaft Deutsche Gesellschaft für Psychiatrie und Psychotherapie, Psychosomatik und Nervenheilkunde (DGPPN) zufolge erleidet in Deutschland mehr als jeder vierte Erwachsene im Zeitraum eines Jahres eine psychische Erkrankung. Angststörungen, Depressionen und Alkohol- oder Medikamentenmissbrauch gehören zu den häufigsten Krankheitsbildern. Doch wie viele der erkrankten Erwachsenen sind Eltern eines oder mehrerer Kinder? Wie viele Kinder wachsen in Familien mit mindestens einem psychisch oder suchtkranken Elternteil auf?
Vorliegende Studien sind aufgrund unterschiedlicher Erhebungsmethoden nur eingeschränkt vergleichbar. Die publizierten Zahlen basieren daher meistens auf Schätzungen oder Hochrechnungen. Der deutschen Gesellschaft für Kinderschutz in der Medizin (DGKiM) zufolge ergibt sich in Deutschland bei konservativer Schätzung eine Gesamtzahl von fünf Mio. Kindern, die mit mindestens einem Elternteil aufwachsen, der psychisch und suchtkrank ist. Dies entspräche einem prozentualen Anteil von 37 Prozent. Mit kühlem wirtschaftlichem Blick betrachtet dürfte hier eine quantitativ bedeutende Zielgruppe mit vermuteten hohen gesellschaftlichen Folgekosten vorliegen. Von Seiten der Jugendhilfe stellt sich jedoch die Frage: Wie geht es diesen Kindern eigentlich in ihren belasteten Familien und wie können sie unterstützt werden? Bei dem Versuch, diese Fragen zu beantworten, wird der große Bedarf einer koordinierenden Anlaufstelle deutlich. Insbesondere bei Fachkräften, die mit psychisch kranken und /oder suchtkranken Eltern zusammenarbeiten, war die Nachfrage deshalb stets hoch. "Der Appell der Fachkräfte war immer derselbe", erinnert sich Petra Kogelheide, Institutsleiterin des Jugendpsychologischen Instituts Essen: "Es braucht eine koordinierende Anlaufstelle, die die Bedarfe psychisch erkrankter Eltern und deren Familien in den Blick nimmt."
ElsE erfüllt Bedarf nach koordinierender Anlaufstelle
Die Fachstelle Elternschaft und seelische Erkrankung (ElsE) in Essen hat mit einem überzeugenden Konzept auf den Bedarf reagiert. Durch langjährige Vorarbeit, u.a. durch den Arbeitskreis "Elternschaft und seelische Erkrankung" hat Kogelheide mit anderen engagierten Fachkräften und Stakeholdern aus verschiedenen Berufsgruppen zunächst eine Vernetzungsstruktur geschaffen und damit den Weg für die Fachstelle geebnet. Doch noch heute fehlen Kommunen und Landkreisen verlässliche Daten über betroffene Kinder und ihre Lebenslage, die sie aber bräuchten, um ihnen systematisch und passgenau Hilfen und Unterstützung anbieten zu können. "Die Angabe der Elternschaft ist beispielsweise kein fester Reiter in der elektronischen Patient*innen-Akte", erläutert Psychologin und ElsE-Mitarbeiterin Jana Gurk.
Sind die Kinder einmal identifiziert, wird in der Regel die Familie – die erkrankten Erwachsenen einerseits und die betroffenen Kinder andererseits – in parallele Hilfe- und Versorgungssysteme aufgeteilt. Dabei treffen unterschiedliche, voneinander getrennte Institutionen, Fachbereiche, Abrechnungssysteme und Sozialgesetzbücher aufeinander. Und was das Koordinieren von Angeboten noch komplizierter macht: Alle Einheiten bringen ihre eigenen Historien und Blickwinkel ein. "Doch eine Familie lässt sich nicht aufspalten", stellt Gurk mit Verweis auf die Fragmentierung und das Nebeneinander einzelner Fachdisziplinen klar.
Fachübergreifende Zusammenarbeit erwünscht
Allein das Existieren der Fachstelle wird bei den Essener Fachkräften als großer Erfolg gewertet. ElsE wird derzeit im Rahmen einer LVR-Initialförderung für Kommunen zum Thema "Kinder und Jugendliche mit psychisch und/oder suchterkrankten Eltern" unterstützt. Ihr Alleinstellungsmerkmal ist die koordinierende Funktion. "In Nordrhein-Westfalen gibt es keine weitere vergleichbare Fachstelle", bekräftigt Gurk, andere Fachstellen seien eher beratend tätig.
Doch wie sehen die Gelingensbedingungen für eine koordinierende Fachstelle konkret aus? Voraussetzung ist für Kogelheide und Gurk ein interdisziplinärer Ansatz, der die Systeme Gesundheits- und Jugendhilfe vereint und fachspezifische Blickwinkel proaktiv überwindet. Die Einrichtung von ElsE als gemeinsames Pilotprojekt des Gesundheitsamtes und des Jugendamtes im vergangenen Jahr ist hierbei als Weichenstellung zu sehen. Gurk besetzt für das Jugendamt eine Stelle bei ElsE, von Seiten des Gesundheitsamts ist ebenfalls eine Stelle geplant. Doch die Annäherung und Vernetzung zwischen den Hilfesystemen muss noch weiter wachsen. Konkret bedeutet das, die Leistungen der medizinisch-therapeutischen und psychosozialen Versorgung der erkrankten Eltern mit den Angeboten der Jugendhilfe zu verzahnen.
Auch wenn die Elternschaft vieler Patient*innen bekannt ist, müssen die Auswirkungen ihrer Erkrankungen auf ihre Kinder und darüber hinaus unterstützende Angebote der Kinder- und Jugendhilfe angesprochen und vermittelt werden. Die Zielsetzung hierbei ist jedoch leichter als die Umsetzung. Kogelheide und Gurk vermissen zuweilen den systemischen Blick auf die gesamte Familie. Dass Kinder eines psychisch erkrankten Elternteils ein mindestens dreifach erhöhtes Risiko haben, selbst eine psychische Erkrankung zu entwickeln, ist für beide ein zentrales Argument, an der Überwindung der Blickwinkel einzelner Fachdisziplinen zu arbeiten und übereinander herrschende Vorurteile abzubauen. Umgekehrt kann eine gute Aufklärung über die oftmals tabuisierte elterliche Erkrankung und die Ressourcenstärkung von Kindern vor einer späteren psychischen Erkrankung schützen.
Ein erster Schritt hin zur systemischen Sichtweise und gemeinsamen Strukturen ist es, mit anderen Fachdisziplinen ins Gespräch zu kommen. Oftmals sind es veraltete Informationen über andere Hilfesysteme, die sich in den Köpfen festgesetzt haben und im Austausch aufgelöst werden können. Bei der Netzwerkarbeit sei es beispielsweise gewinnbringend, anderen Fachbereichen offen und interessiert entgegenzutreten und sich erklären zu lassen, "Was macht der andere da eigentlich genau in seinem Fachgebiet?", erläutert Gurk. Im Gespräch gebe es dann oft Aha-Erlebnisse und viele neue Erkenntnisse. „Die Fachkräfte profitieren sehr davon, über Zusammenhänge informiert zu werden“, ergänzt Kogelheide. Festgestellte Gemeinsamkeiten haben weitere Nachfragen zur Folge und setzen Impulse für neue Angebote. So stellte ein Chefarzt nach einem Gespräch von ElsE mit der Kinder- und Jugendpsychiatrie fest: "Wir brauchen dringend ein Angebot für psychisch kranke Eltern und deren Kinder."
ElsE stößt Domino-Effekte an
Eine behutsame ‚Politik der kleinen Schritte‘ bringt ElsE voran. "Das Arbeiten in der Fachstelle hat einen Domino-Effekt", bringt es Gurk auf den Punkt. Das kann eine neue Idee sein, aus der eine Veranstaltung entsteht, bei der sich ein neues Netzwerk bildet, welches gemeinsam ein neues Angebot entwickelt. Ein solcher Domino-Effekt kann auch an Orten entstehen, die man auf den ersten Blick nicht mit psychischen Erkrankungen verbindet, beispielsweise eine Verbrauchermesse. Hier kam die Fachstelle ElsE auf ihrem Stand schnell ins Gespräch. Interessierte, Betroffene und Kinder fragten nach: "Wer seid ihr und was macht ihr?". So entstand eine ungeplante, Workshop-ähnliche Gesprächssituation. Eine neue Kooperation ergab sich darüber hinaus mit dem „Bündnis gegen Depression“, das ebenfalls mit einem Stand vertreten war. Gemeinsam konnte eine Ärztefortbildung erarbeitet und ein Referent für eigene Veranstaltungen gewonnen werden. Ein Beispiel für eine gelungene Enttabuisierung von Suchterkrankungen war die Kooperation mit einer Essener Kinderbuchhandlung, bei der ElsE das Schaufenster zum Thema "Suchtbelastete Familien" gestalten und damit ihr Fachthema prominent platzieren konnte. Die ausgestellten Materialien lockten Betroffene an, die mit Nachfragen und Erfahrungsberichten in die Buchhandlung kamen.
Zu den weiteren Brücken, die die Fachstelle ElsE baut, gehören Lotsendienste, Öffentlichkeitsarbeit, Gremienarbeit, Akquise von Fördermitteln, Schulung von Fachkräften und die für die Angebotserstellung wichtigen Datenerhebungen. Niedrigschwellige Zugänge wie Sprechstunden von Erziehungsberatungsstellen in allen Essener Erwachsenenpsychiatrien für Patient*innen mit Kindern haben die Arbeitskreise von ElsE längst erfolgreich implementiert. Im ehrgeizigen Potpourri der Fachstelle sind derzeit u.a. ein Handbuch zum Thema "Psychisch erkrankte Kinder von psychisch erkrankten Eltern" sowie eine virtuelle Helfer*innen-Landkarte geplant. "Typisch für uns ist nicht das eine, große Leuchtturmprojekt, sondern eher viele kleine Leuchtfeuer", fasst Gurk die Arbeit von ElsE zusammen. In Zukunft wird es wichtig sein, diese Leuchtfeuer in nachhaltige Strukturen zu überführen. Denn Hanna, ihr Lebenspartner und deren gemeinsame Tochter wünschen sich auch in Zukunft passende Unterstützungsangebote und Fachkräfte, die sensibel sind für ihre besondere Lebenslage.