Nettetal sensibilisiert für Kinderarmut
Gepflegte Vorgärten, akkurate Häuserfassaden und viel Grün. Wer aus einer Großstadt nach Nettetal kommt, findet auf den ersten Blick keine Hinweise auf Armut.
Von Natalie Deissler-Hesse
Tatsächlich verfügt das beschauliche Städtchen am Niederrhein über eine vergleichsweise niedrige Kinderarmutsquote: die rund 14 Prozent der Kinder unter 15 Jahren, die in Nettetal dauerhaft am materiellen Existenzminimum leben, liegen deutlich unter dem NRW-Landesdurchschnitt von 20 Prozent.
Zurücklehnen möchte sich Nettetal aber deshalb nicht. "Gerade, weil wir keine Metropole sind, ließe sich das Thema Kinderarmut leicht überbügeln", sagt Heiko Brodermann vom Jugendamt Nettetal. Stattdessen hat sich der Fachbereich Kinder, Jugend und Familie intensiv mit Teilhabechancen von Kindern befasst. Aus zahlreichen Veranstaltungen und Gesprächsrunden mit engagierten Präventionsakteuren in Nettetal im Rahmen des LVR-Förderprogramms "Teilhabe ermöglichen – kommunale Netzwerke gegen Kinderarmut" wurden in den vergangenen Jahren wichtige Ergebnisse zusammengetragen. Die durch das Förderprogramm entstandene Initiative NeK – Nettetal für Kinderchancen, bündelt die Ergebnisse kompakt in einer Handreichung.
Ziel der Handreichung: Armutssensibilität
Die mit vielen praktischen Unterstützungsmöglichkeiten und nützlichen Kontaktadressen angereicherte Broschüre will nicht aber nur informieren "Wir wollen in erster Linie für Armut sensibilisieren", erläutert Brodermann. Auf kommunaler Ebene könne man die Armutsquote nicht wesentlich verringern, wohl aber für das Thema sensibilisieren, präzisiert er. Dazu leistet die Handreichung einen wichtigen Beitrag: Prägnant und ohne belehren zu wollen, führt sie Leser*innen an das Thema Kinder- und Jugendarmut heran. Aus Sicht der Autor*innen, die sich aus Mitarbeitenden der freien Träger, Schulen, Vereinen und der Stadtverwaltung zusammensetzen, muss ein Grundverständnis von Armut herrschen, das über finanziellen Mangel hinausgeht. Vielfältige Ursachen, Ausprägungen und Erscheinungsformen von Armutslagen sollten dabei berücksichtigt werden. Statt Schwächen zu bekämpfen sei es wichtig, die Stärken der von Armut betroffenen Kindern und Jugendlichen gezielt zu fördern. Ebenso wichtig sei es, Heranwachsende in ihren Belangen ernst zu nehmen und ihnen Mitbestimmung zu ermöglichen. Wertschätzende, neugierige Gespräche seien hierbei wesentlich, führen die Autoren aus.
Kinderarmut ist kein Tabuthema mehr
Die Broschüre will Menschen in haupt- und ehrenamtlicher Funktion in ihrer Arbeit mit Kindern und Jugendlichen unterstützen und zugleich sozialpolitisch sensibilisieren. Zahlreiche Interessensbekundungen, zum Teil aus den verschiedensten Ecken Deutschlands, haben das Jugendamt Nettetal positiv überrascht. "Daten werden angefragt, Kindergärten und Schulen kommen proaktiv auf uns zu", berichtet Brodermann. Auch Politik und Wissenschaft haben die Broschüre entdeckt: Mediziner signalisieren Interesse am Thema Armutssensibilität bei der Ärzteausbildung, Uni-Soziologen haken nach und im Jugendhilfeausschuss Nettetal kommen interessierte Rückfragen aus der Politik. Für Brodermann und seine Kollegin Alina Krischer vom Jugendamt Nettetal ein sicheres Zeichen, dass das Thema Kinderarmut bei einem Großteil der Bevölkerung angekommen ist. So hat die Jugendfeuerwehr Nettetal Aspekte des armutssensiblen Handelns in ihre Vereinsstruktur aufgenommen - ein "Ritterschlag". "Kinderarmut ist kein blinder Fleck mehr", betont Brodermann. Die Aufmerksamkeit für das Thema sei noch vor wenigen Jahren deutlich geringer gewesen. Er ist überzeugt: Das Bemühen, Kinderarmut zu verringern und dabei sensibel vorzugehen, sei ein wichtiges "Demokratiesicherungskonzept".