Wie armutssensibel sind wir eigentlich?
Kita-Fachkräfte tagen in Gummersbach zu Kinderarmut
Bei einer gemeinsamen Veranstaltung des Fachbereichs Jugend, Familie und Soziales der Stadt Gummersbach mit der LVR-Koordinationsstelle Kinderarmut tauschten sich Kita-Fachkräfte intensiv zum Themenfeld Kinderarmut aus. Ziel des Tagesseminars am 20.11.2019 war es, gewonnene Erkenntnisse in die Praxis zu übertragen.
Von Natalie Deissler-Hesse
Am meisten freut sich Lena auf die drei neugeborenen Rehkitze. Ob sie am Ausflug der Kindertagesstädte teilnehmen können wird, weiß sie noch nicht. Denn ihre Mutter kann den Zusatzbetrag für den Tierparkbesuch nicht bezahlen. Pädagogische Fachkräfte, die täglich Kontakt mit Kindern haben, kennen unzählige Beispiele für die verschiedenen Gesichter der Armut. Sie sind darum bemüht, die Kinder nicht spüren zu lassen, dass sie von sozialer Ausgrenzung betroffen sind. Dennoch besteht beim Blick auf Kinder und Familien in Armutslagen die Gefahr unbewusster stereotyper Wahrnehmungsmuster.
Persönliche Wertungen intensiv reflektieren
Referentin und Armutsforscherin Gerda Holz war es deshalb wichtig, die wissenschaftliche Faktenlage darzulegen. "Die Wahrnehmung von Armut geht mit Emotionen einher", brachte es Holz auf den Punkt. Dies könne zu einer Bewertung von Verhalten ohne sachliche Grundlage führen. Um Stigmatisierungen zu umgehen, empfahl Holz den Teilnehmenden des Tagesseminars, sich auf eine intensive Reflexion ihres persönlichen Wertesystems einzulassen. Wie wurden im Kita-Stuhlkreis die von den Kindern berichteten Urlaubserlebnisse von den Erziehern wahrgenommen? Wurden dem Kind, das über eine spannende Flugreise berichtete, nicht viel mehr interessierte Rückfragen gestellt als jenem Kind, das seine Freizeit auf dem Spielplatz verbrachte?
Holz stellte heraus, dass Armut nicht verhaltensbedingt, sondern von den Lebensverhältnissen geprägt ist. Anhand einer Studie erläuterte die Wissenschaftlerin, auf was Eltern am wenigsten verzichten, wenn das Geld nicht reicht. Anders als von der Boulevardpresse gern behauptet, waren es nicht Alkohol und Zigaretten, sondern die Bedarfe der Kinder. Holz appellierte an die Teilnehmenden, die Aussagen der Eltern anzunehmen und sie bei ihrem Wunsch nach Unterstützung mit Ämtern und Behörden ernst zu nehmen. "Wie kann ich Eltern beraten und helfen? Das muss die zentrale Frage sein", so Holz.
Die Rolle der Kitas bei der Abmilderung der Folgen von Kinderarmut
In Kleingruppen arbeiteten die Teilnehmenden heraus, wie es in Kitas gelingen kann, armutssensibel zu handeln. Wie kann man eine Weihnachtsfeier organisieren, an der auch Familien ohne finanzielle Ressourcen teilnehmen können? Können wir die Partizipation der Kinder in unserer Kita gewährleisten? Mit welchen Maßnahmen können wir dazu beitragen, Vorurteile über Kinder in Armutslagen abzubauen? Corinna Spanke, Fachberaterin in der LVR-Koordinationsstelle Kinderarmut, verwies in diesem Kontext auf den Einfluss, den die Ausstattung der Kindertageseinrichtung, die Haltung der Fachkräfte und die Nutzung von Medien haben können: Sind wir einseitig in unserer Normorientierung und grenzen damit manche Kinder aus? Dies lässt sich beispielsweise bei Kinderbüchern schnell überprüfen. Wohnen dort Kinder in Wohnungen? Gibt es alleinerziehende Eltern? Die Protagonistin in einer der populärsten Kinderbuchreihen in Deutschland ist beispielsweise Tochter gut situierter Akademiker. Die Familie bewohnt ein Haus mit Garten. Spiegelt das wirklich die Lebenswelt der meisten Kinder wider? Eine Frage, die das Publikum bewegte. Das Buch sei "für arme Familien wohl eher ein Märchenbuch," stellt eine Teilnehmerin fest
Was funktioniert? Was können wir besser machen?
Die pädagogischen Fachkräfte waren sich schnell ihrer persönlichen Verantwortung und ihrer Gestaltungsmöglichkeiten bei der kindbezogenen Armutsprävention bewusst. Es herrschte Einigkeit darüber, dass betroffene Kinder und deren Familien bereits mit kleinen Maßnahmen unterstützt werden können. Eine Pädagogin stellte das in ihrer Kita etablierte Kinderparlament vor: Gemeinsam entscheiden Kinder beispielsweise, wohin ein Ausflug gehen soll. Ihre Kollegin thematisierte die funktionierende Tauschkultur ihrer Einrichtung bei gebrauchter Kleidung. Eine weitere Fachkraft reflektierte unbedachte Äußerungen über ihr eigenes Kaufverhalten gegenüber den Kindern ("Gestern habe ich mir eine neue Bluse gekauft"). Zudem sei die Frage an die Kinder "Wo habt ihr Urlaub gemacht?", wenig armutssensibel. Eine Erzieherin beschloss, die gelegentlich kostenfreie Teilnahme an Veranstaltungen ihrer Kita künftig schriftlich wie mündlich und über mehrere Kanäle zu kommunizieren. Damit sollen Familien Unsicherheiten über eventuelle Kostenbeiträge genommen werden.
Resümee: Impulse nutzbar machen
Gemeinsam brachten die Seminarteilnehmenden ihre Erkenntnisse auf einen Nenner. "Finanzielle Armut ist für uns Erzieher schnell sichtbar", stellte eine Fachkraft fest. "Für mich war es aber wichtig, mehr über die Hintergründe von Armut zu erfahren und auf den ‚unsichtbaren‘ Aspekt von Armut einzugehen." Eine weitere Fachkraft bestätigte, die Reflexion ihres Blickwinkels auf Armut habe ihr geholfen. "Diese Anregung möchte ich auch an unser Kita-Team weitergeben." Der Koordinator für Prävention der Stadt Gummersbach, Thomas Schulte, resümierte: "Wir haben heute das Themenfeld Kinderarmut intensiv beleuchtet. Wenn wir unser eigenes professionelles Handeln zuweilen hinterfragen und die Impulse aus unserer Diskussion für unsere Arbeit nutzbar machen, sind wir hier in Gummersbach schon ein gutes Stück vorangekommen."
Die Kreisstadt Gummersbach ist seit 2013 Partnerkommune des LVR-Förderprogramms "Teilhabe ermöglichen – Kommunale Netzwerke gegen Kinderarmut". Im Zuge der Armutsprävention wurden die Strukturen bestehender Netzwerke nachhaltig ausgebaut.