„Wir können so leicht viel bewegen!“
Erfahrungen aus dem Projekt „Jung sein im Klever Südstadt-Quartier“
Von Natalie Deissler-Hesse
Ein Bienenschwarm kleiner und großer Kinder mit strahlenden Gesichtern stürzt mit lautem Hallo auf sie zu. Diese stürmische Begrüßung erleben Anke Altenstädter und Sevim Adar jedes Mal, wenn sie in der Brüningstraße ankommen. Die begrünte Spielfläche mit Gemeinschaftsgarten in der Klever Südstadt ist ein lebendiger Begegnungsort in einem Quartier, in dem viele Familien in prekären Lebenssituationen wohnen. Hier wird gespielt, laut gelacht, fleißig im Garten gearbeitet und die eine oder andere Frage aus dem Alltag der Kinder beantwortet. Die beiden pädagogischen Fachkräfte, die von den Kindern liebevoll „Frau Adar und Anke mit dem grünen Bus“ genannt werden, haben entscheidend zu einer Willkommenskultur beigetragen und ein intensives Vertrauensverhältnis zu den Menschen im Quartier aufgebaut. Der Gemeinschaftsgarten ist Teil und zugleich Symbol des Projekts „Jung sein im Südstadt-Quartier“, das mit Mitteln der LVR-Kulturstiftung gefördert wird. Träger ist das Berufsbildungszentrum Theodor-Brauer-Haus in Kleve.
Herantasten an Bedarfe und Wünsche
Das Projekt mit gemeinnützigem Charakter besteht aus einer Vielzahl von Angeboten, die auf Nachfrage junger Menschen an verschiedenen Orten in der Klever Südstadt entstanden sind. „Jemand bittet um eine Hilfestellung, und dann überlegt man gemeinsam: Wie kann man unterstützen? So sind die meisten unserer Angebote entstanden“, erläutert Sevim Adar. Durch Rückfragen entdeckten die beiden Kolleginnen weitere Bedarfe, die sie in ihr Angebotsspektrum aufnahmen. So auch „Wir machen das!“. Bei diesem Angebot werden Kindern alltagstaugliche, praktische Fähigkeiten vermittelt. Sie werden darin gestärkt, eigene Ressourcen zu nutzen, um mehr Selbstständigkeit und Unabhängigkeit zu erlangen. Wie packe ich meine Schultasche? Wie schmiere ich ein Pausenbrot? Die positiven Erfahrungen aus der mehrwöchigen Gruppenarbeit ermutigten die beiden Sozialpädagoginnen, das Modul „Pausenbrot“ auf Einkauf und Vorbereitungen zu erweitern und so den Umgang mit Geld einzuüben. Auch Busfahren und Straßenverkehrstraining stehen auf dem Programm.
Kindern Zukunftsperspektiven eröffnen
Auf Wunsch mehrerer Quartiersbewohner*innen ist das Angebot „Hausaufgabenhilfe“ ins Leben gerufen worden, das zweimal wöchentlich in den Räumlichkeiten der Karl-Leisner-Schule stattfinden. Südstadt-Eltern mit Migrationshintergrund und ohne Erfahrungen mit dem deutschen Schulsystem äußerten die Befürchtung, dass ihre Kinder in der Schule den Anschluss verlieren könnten. In der Konsequenz könnte eine fehlende Berufsperspektive drohen, so die Sorge jener Eltern, die ihre Kinder nicht bei den Hausaufgaben unterstützen können. Zehn Kinder im Grundschulalter werden nun einmal wöchentlich bei ihren Hausaufgaben betreut. Dabei fällt auf, wie gut Kinder, die ihren Schulstart nicht in Deutschland erlebt haben, mit wenigen Hinweisen selbstständig korrekte Formulierungen zu Papier bringen. „Kinder aus der Hausaufgabenbetreuung können besser Deutsch als ihre Eltern“, bestätigt Adar. „Sie sind so firm, dass sie von ihren Eltern mit aufs Amt genommen werden, um zu übersetzen und bei der Bewältigung verschiedener Probleme zu helfen.“
Eine zweite Heimat schaffen
Den Freizeitausgleich für so viel Verantwortung finden die Kinder im Gemeinschaftsgarten Brüningstraße bei naturpädagogischen Erlebnissen. Der Garten mit Hochbeeten und Kräuterschnecken wurde von den Familien in den angrenzenden Häusern angelegt und gestaltet. Die Natur- und Wildnispädagogin Anke Altenstädter ermöglicht es den Kindern, Entwicklungen in der Natur über einen längeren Zeitraum zu begleiten: Sie säen, pflegen, ernten und essen gemeinsam. Dadurch wird Achtsamkeit gefördert, es entsteht Respekt vor der Natur. Ein 7-Jähriger aus Syrien erklärt stolz, was die Kinder angebaut haben: „Sehr schöne rote und weiße Blumen. Und hier sind auch Erdbeeren und Tomaten, die müssen aber noch wachsen.“ Altenstädter lässt die Kinder Räume gestalten und hofft, ihnen so ein kleines bisschen Heimatgefühl vermitteln zu können. Über ihre Heimat sprechen die Kinder selten. Sie leben im Hier und Jetzt, engagieren sich für ihre Zukunft. Kraft und Energie tanken sie im Gemeinschaftsgarten. „Ich bin 16 Jahre und in der 10. Klasse, müsste eigentlich in der 12. Klasse sein. Das liegt an meinem schlechten Deutsch, aber ich strenge mich an für einen guten Beruf“, erzählt Jalil aus Syrien, der seit drei Jahren in Deutschland lebt. Jalil kommt sehr gerne zur Grünfläche an der Brüningstraße zum Fußball spielen. Hier kicken 6-Jährige mit 18-Jährigen in einer Mannschaft. Alter und Herkunft spielen keine Rolle. Zugezogene werden freudig aufgenommen. Warum identifizieren sich die Kinder und Jugendlichen mit diesem Ort? Sie sind hier authentisch, werden respektiert und wertgeschätzt. Die Kinder dürfen viel, müssen aber nichts. Jalil formuliert es mit seinen eigenen Worten: „Ich fühle mich hier super!“
Brückenbauer zwischen Institutionen und Flüchtlingsfamilien
Der Gemeinschaftsgarten ist für viele Quartiersbewohner eine Wohlfühlinsel in einem Alltag mit zahlreichen, kaum zu bewältigenden Herausforderungen. Eine Familie, die kein Deutsch spricht, hat eine zweistellige Zahlungsaufforderung erhalten, die ihr seit Wochen Kopfschmerzen bereitet. Ähnlich geht es anderen Flüchtlingsfamilien, die ihr Kind in der Kita anmelden oder einen Handyvertrag abschließen wollen. Schnell entstand bei den Bewohner*innen der Wunsch nach einer „Mobilen Einzelfallhilfe“: An einem Ort ihrer Wahl können sie nun ihr individuelles Anliegen vortragen und sich ohne bürokratischen oder organisatorischen Aufwand Hilfe holen. Wie der Zahlungsrückstand zustande gekommen ist, muss Adar, die mehrere Sprachen beherrscht, durch intensives Nachhaken bei verschiedenen Ämtern und Ansprechpartner herausfinden und der Familie erklären. „Dazu gehört viel Geduld, so oft es geht ansprechbar und präsent sein und keine Forderungen stellen.“ Der Kontakt zu den Behörden sei für benachteiligte Familien oft die größte Hürde, sagt Adar. Doch den „Mittlern“ ist es gelungen, gute Kontakte zur Schulsozialarbeit, zu Beratungsstellen und Vereinen aufzubauen. Die Kommunikation auf Augenhöhe zwischen den Bewohnern und den Fachkräften sorgt für ein gutes Vertrauensverhältnis. „Wir wissen ja, dass Sie das niemandem weitererzählen,“ bekommen die Kolleginnen zuweilen zu hören.
Jeder hat Zugang zu allen Angeboten
Auch wenn die Familien immer eingebunden werden, liegt der Fokus des Projekts auf den Wünschen und Bedarfen der Kinder und Jugendlichen. Die Orte und Zeiten der angebotenen Veranstaltungen werden auf ihre Bedürfnisse ausgerichtet. „Wir passen uns den Jugendlichen an, und nicht umgekehrt“, erläutert Adar. Ob Hip-Hop-Kurs oder Kinobesuch – alles ist kostenfrei, damit keiner von den Angeboten ausgeschlossen wird. Freudig warten die Kinder auf „Anke mit dem grünen Bus,“ die sie einsammelt und begleitet. Es hat sich eine „sehr stabile Gruppe“ entwickelt, berichtet Adar, obwohl die Teilnahme unverbindlich ist.
Im Projekt „Jung sein im Südstadt-Quartier“ hat jedes Kind seinen Platz gefunden
„Ich bin der persönliche Assistent von Anke und Frau Adar“, stellt sich ein kleiner Junge vor. „Ich habe hier sehr wichtige Aufgaben.“ Der 8-Jährige, der in der Schule selten Erfolgserlebnisse hat, ist stolz darauf, bei der Gartengestaltung helfen zu dürfen. Die Fachkräfte erleben bei den Bewohner*innen oft tiefe Dankbarkeit für ihre Arbeit. Sie werden in die Familien eingeladen. Im Gemeinschaftsgarten wird ihnen gerne von den nächstgelegenen Balkonen eine Tasse Kaffee herübergereicht. Oft bedanken sich die Familien für die „unkomplizierte Hilfe“. Die Dankbarkeit empfinden die Sozialpädagoginnen als sehr motivierend. Zugleich sind sie sich ihrer tragenden Rolle bewusst. „Es wäre verheerend, wenn wir nicht da wären“, stellt Adar fest. „Erfolgserlebnisse und positive Veränderungen in den Familien sind deutlich wahrnehmbar. Hier kann man sehr schnell viele kleine Früchte seiner Arbeit ernten.“ Auf die Frage, wie sich die Sozialpädagogin das erklärt, antwortet sie: „Je näher man den Menschen kommt, desto besser versteht man sie.“
Die Präventions- und Bildungslandschaft in der Klever Südstadt
Das Projekt "Jung sein im Südstadt-Quartier" des Trägers Theodor-Brauer-Haus, Berufsbildungszentrum Kleve e.V., dient der Weiterentwicklung der Präventions- und Bildungslandschaft in der Klever Südstadt, in der ca. 10.000 Menschen leben. Die gewonnenen Erfahrungen und Erkenntnisse sollen zum einen in das Konzept des Jugendhauses MOMS einfließen, das im Stadtteil gelegen ist und der offenen Jugendarbeit auch quartiersbezogene niedrigschwellige Angebote im Programm hat. Zum anderen findet ein Wissenstransfer in den Arbeitskreis Südstadt statt, in dem - koordiniert durch das Jugendamt - verschiedenste Einrichtungen und Akteure der Präventions- und Bildungsarbeit bereits seit vielen Jahren vernetzt sind, um gemeinsam die Angebote für Kinder, Jugendliche und Familien im Quartier weiterzuentwickeln. Zielsetzung muss es sein, das aufgebaute Vertrauen der im Projekt erreichten Zielgruppen aufrechtzuerhalten und ihnen auch nach Projektende bedarfsgerechte Angebote zur Verfügung zu stellen.